Zum Tod von Alexander Solschenizyn
Montag Morgen. Eine Nachbarin legt einen Blumenstrauß vor einem hellblauen Holztor ab. Hinter dem Tor befindet sich die große Datscha von alexander Isajewitsch Solschenizyn. Hier im Dorf Troize-Lzkowo, umgeben von Fichten und nicht weit vom Moskwa-Fluss, lebte der Schriftsteller zusammen mit seiner Frau Natalja. Zuletzt arbeiteten die beiden an einer 30-bändigen Gesamtausgabe seiner Werke. „Es war ein Tag wie jeder andere“, erklärte Stepan, der Sohn des Schriftstellers, im russischen Fernsehen. Solschenizyn war sehr gebrechlich geworden.
Vor der Presse hatte er sich nur noch selten geäußert. Am Sonntagabend musste die Familie dann schnell Ärzte rufen. Doch sie konnten nichts mehr ausrichten. Alexander Solschenizyn starb um 23:45 in seinem Haus an Herzversagen, nur wenige Monate vor seinem 90. Geburtstag. Nichts habe den Tod angekündigt, sagt der Sohn. Es bleibe eine schöne Erinnerung an den Vater. Solschenizyn war in den 70er und 80er Jahren zum Symbol für Freiheit und Mut geworden. Seine Bücher, in denen er die Insassen der Arbeitslager zu Wort kommen ließ, öffneten nicht nur den Menschen in der Sowjetunion, sondern auch manchen Linken im Westen die Augen über das Ausmaß der Unterdrückung und Verfolgung. Solschenizyn wurde im Westen zum lebenden Beweis für die Unmenschlichkeit des Sowjetsystems.
Der Schriftsteller warnte nach seiner Ausbürgerung in den 70er Jahren vor zu viel Zugeständnissen gegenüber der Sowjetunion. 17 Jahre lebte Solschenizyn im US-Staat Vermont, doch er wurde nicht zum glühenden Anhänger des westlichen Lebensmodells. In den letzten Jahren kritisierte Solschenizyn den „Werteverfall“ im Westen und in Russland. Er beschuldigte Boris Jelzin, Russland in den Ruin getrieben zu haben. Vor der Duma, dem russischen Parlament, erklärte der Schriftsteller mit aufgeregter Stimme, „heute haben wir eine Oligarchie. Die Macht wird von einem engen Personenkreis ausgeübt“. Von Boris Jelzin wollte Solschenizyn keinen Staatspreis entgegennehmen. Mehrmals kritisierte er die Politik des Westens, so 1999 den Einsatz der Nato in Jugoslawien.
Der ehemalige KGB-Chef und heutige Ministerpräsident Wladimir Putin sprach in einem Beileidstelegramm von einem „schweren Verlust“ für ganz Russland. „Wir sind stolz, dass alexander Isajewitsch Solschenizyn unser Landsmann und Zeitgenosse war.“ Der letzte Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow würdigte den Verstorbenen als einen der Ersten, der „mit voller Stimme“ über „die Unmenschlichkeit des Stalin-Regimes“ gesprochen hat. Er habe über die Menschen geschrieben, die dieses System erlitten haben, „aber nicht gebrochen wurden“. Unter Gorbatschow erschien das Hauptwerk des Schriftstellers, „Archipel Gulag“, das erste Mal als Buch. Zuvor lasen die Menschen in der Sowjetunion das Werk, das die Gulag-Zustände anprangert, nur auf Schreibmaschinen-Kopien. Der Vorsitzende der liberalen „Jabloko“-Partei, Sergej Mitrochin, erklärte, dank Solschenizyn hätten „Millionen Menschen erfahren, in welchem Land sie leben“.
Solschenizyns Bücher hätten den Stalinismus in der Sowjetunion als herrschende Ideologie zerstört. „Trotz aller Zählebigkeit wird der Stalinismus in unserem Land nie wieder errichtet.“ Die Meinung von KP-Chef, Gennadi Sjuganow wirkte da wie eine Stimme aus der Vergangenheit. Was Solschenyzin über „die frühe Periode der Sowjetunion“ geschrieben habe, sei „nicht immer objektiv“ gewesen. Man dürfe nicht seine „persönliche Tragödie“ im Arbeitslager auf die „Leistungen eines ganzen Volkes“ übertragen. Aus aller Welt trafen gestern Beleid-Telegramme in Moskau ein. George Bush trauerte um einen „Kämpfer für die Freiheit“, Angela Merkel sprach von einem „Mahner“, „Moralisten“ und „unerschrockenen Kämpfer“, der stets gegen Willkür und für Menschenrechte eingetreten sei.Solschenizyn wurde am 11. Dezember 1918 in dem nordkaukasischen Kurort Kislowodsk geboren. Sein Vater war ein russisch-orthodoxer Bauer, seine Mutter Tochter eines ukrainischen Gutsbesitzers.
Der Vater starb noch vor der Geburt des Sohnes bei einem Jagdunfall. Schon als Jugendlicher sei er gehänselt worden, berichtete Solschenizyn, weil er ein Kreuz auf der Brust trug und nicht zu den jungen „Pionieren“ wollte. Solschenizyn studierte Mathematik und Physik. Ein anschließendes Literatur-Studium wurde durch den beginnenden Zweiten Weltkrieg unterbrochen. Solschenizyn kämpfte an der Front als Chef einer Schallmesstruppe. Im Februar 1945 wurde er verhaftet, weil er sich in einem Brief an einen Freund kritisch über Stalin geäußert und ihm eine Abweichung von Leninschen Normen vorgeworfen hatte.Für alexander Isajewitsch begann eine Odyssee durch verschiedene Arbeitslager. Solschenizyn begann das Erlebte aufzuschreiben.
1953, ein Jahr von Stalins Tod, wurde der Schriftsteller aus dem Lager entlassen. Es folgten drei Jahre Verbannung in der Steppe Kasachstans, wo Solschenizyn als Dorfschullehrer arbeitete. Sein Leben war akut bedroht. Bereits 1952 hatte man eine Krebserkrankung bei ihm festgestellt. 1953 wurde er in einem Krankenhaus von Taschkent operiert. Seine Eindrücke schrieb er im Buch „Krebsstation“ nieder. Nach der Entlassung 1956 arbeitete der Schriftsteller als Mathematiklehrer in einem Dorf im Gebiet Wladimir, nordwestlich von Moskau. 1962, als unter Generalsekretär Chrutschow die „Tauwetter“-Periode begann, konnte Solschenizyn in der Literaturzeitschrift „Nowy Mir“ fünf Erzählungen veröffentlichen, so unter anderem „Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch“. Mit dem Machtantritt von Leonid Breschnjew endeten diese kleinen Freiheiten. Die Erzählung „Krebsstation“ wurde verboten, sie wurde jedoch im Untergrund auf Schreibmaschine kopiert und verbreitet.
Der Schriftsteller bekam viele Briefe von ehemaligen Häftlingen. Sie bildeten den Grundstock zu seinem Hauptwerk, „Archipel Gulag“, in dem er die Schicksale von 227 Überlebenden des Lager-Systems beschrieb. 1970 bekam Solschenitzyn dafür den Literatur-Nobelpreis, den er jedoch aus Angst, nicht wieder in die Sowjetunion zurückkehren zu können, nicht persönlich annahm. Danach begann in der Sowjetunion eine massive Kampagne gegen die Dissidenten. 1973 fielen dem KGB Teile des Manuskripts in die Hände. Nun musste das Werk schnell im Ausland veröffentlicht werden.
Im selben Jahr erschien der erste Band von „Archipel Gulag“ in Paris. Im Westen stieß das Buch auf ein gewaltiges Echo. Im Januar 1974 wurde dem Schriftsteller auf Anweisung von Parteichef Juri Andropow die Staatsbürgerschaft aberkannt. Solschenizyn wurde in die Bundesrepublik abgeschoben, wo der Schriftsteller eine Zeitlang bei seinem Kollegen Heinrich Böll lebte. Später lebte Solschenizyn in Zürich und schließlich 17 Jahre im US-Bundesstaat Vermont.1994 kehrte Solschenizyn nach 20jähriger erzwungener Emigration nach Russland zurück. Aus Alaska kommend landete er mit einem Flugzeug in Wladiwostok, von wo er Russland in einem Eisenbahnzug von Ost nach West in Augenschein nahm. Auf den Bahnhöfen versammelten sich große Menschenmassen, die jedes Wort des Schriftstellers aufsaugten. Es war die Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung. Von nun an arbeitete Solschenizyn als Mahner und Warner. Er versuchte sein Modell des russischen Staates, mit einer starken örtlichen Selbstverwaltung und orientiert am russisch-orthodoxen Glauben, ins Gespräch zu bringen. Doch in Russland hatten die Menschen andere Probleme. Es wurden keine Löhne gezahlt. Man musste sehen, wie man über die Runden kam.
Mit der Stabilisierung der russischen Wirtschaft begann dann 2002 ein großer Konsumrausch. Die Bürger Russlands können am Dienstag in der Akademie der Wissenschaften von dem Verstorbenen Abschied nehmen. Der Leichnam von alexander Solschenizyn wird in einem offenen Sarg aufgebahrt. Am Mittwoch wird der Schriftsteller auf dem Friedhof des Moskauer Donskoj-Klosters beerdigt. Den Ort hatte er sich noch zu Lebzeiten selbst ausgesucht.