Belarus

Ein Land mit gespaltener Zunge

(n-ost) – Soll man das Wort „Präsident“ auf Weißrussisch groß oder klein schreiben? Der Sprachwissenschaftler Smitser Sauka aus Minsk hat dazu eine klare Meinung: Das Wort ist kein Eigenname, sondern die Bezeichnung eines Amtes – und Sauka meint, dass solche Wörter in der weißrussischen Sprache grundsätzlich klein geschrieben werden müssen. Im Gesetz zur Rechtschreibreform des Weißrussischen, das Staatspräsident Alexander Lukaschenko kürzlich bestätigt hat, wurde jedoch festgelegt, dass seine Amtsbezeichnung spätestens ab 2010 groß zu schreiben ist. Für Sauka, Gegner der Rechtschreibreform und Mitglied der Oppositionspartei Belarussische Nationale Front (BNF), dient die Reform nur dazu, den Untertanengeist der Weißrussen am Leben zu halten. Und Beispielsätze aus der Sowjetzeit sollen seiner Meinung nach nostalgische Gefühle und Stolz auf die UdSSR-Vergangenheit wecken.Die Rechtschreibreform ist nur ein Beispiel dafür, wie politisch aufgeheizt die Diskussion um Sprache in Weißrussland ist. Die Gründe dafür liegen in der Geschichte (siehe Hintergrund). Mit der staatlichen Unabhängigkeit Weißrusslands 1991 wurde nach dem Motto „ein Staat – eine Nation – eine Sprache“ das Weißrussische zur einzigen Staatssprache erklärt. Doch nicht alle Weißrussen waren damit einverstanden, von ihrer Alltagssprache Russisch zur Nationalsprache Weißrussisch umerzogen zu werden. Alexander Lukaschenko, erster und bisher einziger Staatspräsident des Landes, griff in seiner Wahlkampagne von 1994 und nach der Wahl diese Stimmung auf.„Die weißrussische Sprache ist eine armselige Sprache“, befand Lukaschenko damals in einer Ansprache. „Auf der Welt existieren nur zwei große Sprachen: Russisch und Englisch.“ Und er ließ bereits 1995 das Volk befragen, ob das Russische neben dem Weißrussischen wieder Staatssprache werden solle. Das Ergebnis: Über 80 Prozent der Stimmen waren für die Wiedereinführung des Russischen. Seitdem rühmt sich der autoritär regierende Präsident immer wieder, mit seiner Sprachenpolitik doch nur den Willen des Volkes auszuführen.Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Und das nicht nur, weil die Gegner der staatlichen Zweisprachigkeit vor der Volksabstimmung kaum eine Möglichkeit hatten, in den staatlichen Zeitungen, dem Radio oder Fernsehen ihre Meinung zu äußern. Viele Weißrussen scheinen nämlich stolz auf „ihre“ weißrussische Sprache zu sein, obwohl sie diese gar nicht benutzen. So zumindest kann man die Sprachenstatistik der Volkszählung von 1999 deuten: Mehr als 70 Prozent aller Befragten nannten Weißrussisch ihre Muttersprache, obwohl gleichzeitig nur knapp unter 40 Prozent angaben, diese Sprache auch tatsächlich im Alltag zu benutzen.Anhänger der Nationalsprache der Weißrussen sind landesweit in der Gesellschaft für die weißrussische Sprache organisiert, die nach Angaben ihres Vorsitzenden, Aleh Trusau, die größte legale Nichtregierungsorganisation im Land ist. In der Hauptstadt Minsk hat die Gesellschaft für die weißrussische Sprache ihre viel zu kleine Niederlassung nahe der Staatlichen Linguistischen Universität. Dort werden Bücher und CDs auf Weißrussisch verkauft.Die Gesellschaft für die weißrussische Sprache versteht sich trotz ihres Kampfes um sprachliche Rechte nicht als politische Organisation. Und doch ist das Weißrussische immer ein wichtiges Symbol des Protestes gegen die Präsidentenherrschaft Alexander Lukaschenkos gewesen: Demonstranten wurden von der Miliz zusammengeschlagen, weil sie Parolen auf Weißrussisch riefen oder sich in dieser Sprache unterhielten. Schüler und Eltern, die sich für Schulunterricht in weißrussischer Sprache einsetzen, und Wehrpflichtige, die darauf bestehen, ihren Dienst in einer weißrussischsprachigen Militäreinheit abzuleisten, gelten schnell als politische Unruhestifter.Doch dass Weißrussisch die Sprache der Opposition gegen Staatspräsident Lukaschenko ist, lässt sich daraus nicht schlussfolgern. Jurij Drakochrust, politischer Kommentator der weißrussischen Redaktion von „Radio Free Europe“, mahnt zu Vorsicht bei solchen Urteilen. „Unter den russischsprachigen Politikern gibt es genauso Patrioten, die für die Unabhängigkeit Weißrusslands sind“, sagt Drakochrust. Wichtige Oppositionsparteien wie etwa die liberale Vereinigte Bürgerpartei führen ihren Wahlkampf vor allem auf Russisch.Auch soziologische Studien der vergangenen Jahre scheinen dem Klischee von den Weißrussisch sprechenden, nach Westen orientierten Lukaschenko-Gegnern zu widersprechen: Nach Erhebungen eines in Litauen ansässigen Meinungsforschungsinstituts fand sich unter den befragten Weißrussischsprechern eine Mehrheit für die Vereinigung Weißrusslands mit Russland, während unter den Russischsprechern die Anhänger eines EU-Beitritts leicht überwogen. Und auf die Frage, wen sie denn wählen würden, wenn morgen Präsidentschaftswahlen wären, gaben über 50 Prozent der Weißrussischsprecher Alexander Lukaschenko an – unter den Russischsprechern gaben nur etwa 25 Prozent diese Antwort.Diese und andere Umfrageergebnisse zeigen eins: Die meisten Weißrussischsprecher gehören nach wie vor der älteren Generation an, leben auf dem Land, haben keinen Hochschulabschluss und sehnen sich eher nach der Sowjetunion als nach der EU. Daneben gibt es allerdings immer mehr junge und gebildete Leute in den Städten, vor allem in Minsk, für die Weißrussisch ein rebellisches Image hat. Auf Internetseiten wie „Facebook“ oder „Hospitalityclub“ hinterlassen sie sich nicht nur gegenseitig weißrussische Gästebucheinträge, sondern haben auch jede Menge Freunde aus dem Westen auf ihrer Kontaktliste. Und wenn sie über die Rechtschreibreform der weißrussischen Sprache zu entscheiden hätten, würden sie das Wort „Präsident“ mit Sicherheit klein schreiben lassen.
Hintergrund:
Sprache als PolitikumIm Großfürstentum Litauen war die altweißrussische Sprache bis Ende des 17. Jahrhunderts Staatssprache. Dieser Staat umfasste neben dem heutigen Litauen auch weißrussische und ukrainische Gebiete. Ende des 18. Jahrhunderts eroberte der russische Zar Weißrussland, neue alleinige Staatssprache wurde das Russische.
Nach der Gründung der Sowjetunion förderten die neuen Machthaber in den 1920er Jahren zunächst das Weißrussische, um den Analphabetismus unter der weißrussischsprachigen Landbevölkerung zu bekämpfen und die Weißrussen für die kommunistische Idee zu begeistern.
Unter Josef Stalin änderte sich diese Politik: Der Diktator ließ weißrussische Intellektuelle foltern und ermorden. Ziel war von nun an, dass alle nichtrussischen Sowjetbürger das Russische wie eine zweite Muttersprache beherrschten.
Die weißrussische Sprache wurde 1933 in einer Reform dem Russischen angenähert. Sie geriet bis zur Auflösung der Sowjetunion 1991 immer mehr außer Gebrauch, da sie nicht gefördert wurde und als Sprache der Bauern und einiger patriotischer Schriftsteller galt. Bekannt wurde eine Aussage des kommunistischen Generalsekretärs und Stalin-Nachfolgers Nikita Chruschtschow: „Je früher wir anfangen, Russisch zu sprechen, desto schneller gelangen wir zum Kommunismus.“ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0


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