Ukraine

Geburtswehen einer jungen Demokratie / Interview mit dem ukrainischen Schriftsteller Juri Andruchowytsch

Wer sich an 1989 erinnert, denkt nicht unbedingt zuerst an die Ukraine. Tatsächlich wussten damals die wenigsten Menschen im Westen überhaupt, dass es ein Land dieses Namens gibt. Die Ukraine galt schlicht als Teil der Sowjetunion. Und doch nahm dort vor 20 Jahren eine Bewegung ihren Anfang, die das Land in die Unabhängigkeit und während der Orangenen Revolution 2004 auch ins Bewusstsein der westlichen Welt katapultierte. Juri Andruchowytsch (49), der wohl bedeutendste ukrainische Autor der Gegenwart, zeichnet diesen Weg im Interview nach.

Ostpol: Herr Andruchowytsch, wie haben Sie die Zeitenwende von 1989 erlebt?

Andruchowytsch: 1989 war eines der wichtigsten Jahre meines Lebens. Ich war 29 Jahre alt und hatte bis dahin vor allem Gedichte geschrieben. Dabei ging es vor allem um Ästhetik, nicht um Politik. Dann kam 1989. All die Prozesse, die man gemeinhin als Perestroika bezeichnet, beschleunigten sich radikal.

Wie machte sich das in der Ukraine bemerkbar?

Andruchowytsch: 1989 war das Gründungsjahr einer völlig neuen bürgerlich-nationalen Freiheitsbewegung, des „Narodny Ruch”. Für uns jüngere Autoren war das ein Signal, dass wir etwas Neues anfangen mussten. Etwas Politisches, nichts rein Ästhetisches mehr.

War Ihnen in diesem Moment bewusst, dass es auf die Unabhängigkeit der Ukraine hinauslaufen würde?

Andruchowytsch: Nein! Wir haben zu dieser Zeit für Autonomie gekämpft. Aber dann ging alles ganz schnell. Nur zwei Jahre später, 1991, stand schon die Unabhängigkeit auf der Tagesordnung.

Wer waren die Träger der Veränderung?

Andruchowytsch: Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle, vor allem aber die Bürgerrechtler. Die waren in ihren Ideen viel radikaler als wir. Hinzu kam im Sommer 1989 eine regelrechte Arbeiterbewegung.

In der Ost-Ukraine wurde im August 1989 gestreikt. Wenn man zurückblickt, ist das überraschend, denn die Region gilt heute als besonders russlandfreundlich.

Andruchowytsch: Ja, aber man muss genau hinschauen. Die Arbeiter im Osten haben damals für die Verbesserung ihrer sozialen Lage gestreikt. Es ging ja wirtschaftlich seit Jahren bergab. Tatsächlich taten sich 1989 schon die ersten Gräben auf, etwa in der Frage, ob das Ukrainische alleinige Amtssprache sein sollte. Im Osten sprechen die meisten Ukrainer Russisch. Die wollten das nicht.

Waren das Vorboten der Spaltung in einen proeuropäischen Westen und einen prorussischen Osten, wie wir sie von der Orangenen Revolution 2004 kennen?

Andruchowytsch: Nein. Die Konfrontation von 2004 war eine Folge der Situation in den 90er Jahren. Zunächst hat man sich zusammengerauft und 1991 die Unabhängigkeit erkämpft.

Was passierte denn nach 1991? Wodurch entstand die Spaltung?

Andruchowytsch: Zunächst einmal geschah – nichts! Es kam über Jahre hinweg zu einem Stillstand. Weder unter Präsident Krawtschuk noch unter seinem Nachfolger Kutschma, die von 1991 bis 2004 regierten, gab es eine konsequente unabhängige Politik. Stattdessen beschleunigte sich der wirtschaftliche Niedergang, und das haben die Menschen mit dem neuen Staat in Verbindung gebracht.

Wieso kam es trotzdem zur Orangenen Revolution?

Andruchowytsch: Das ist mit der Figur des heutigen Präsidenten Viktor Juschtschenko verbunden. Er wurde 1999 Premierminister. Juschtschenko hatte nichts mit der alten Sowjet-Nomenklatura zu tun und hat eine ziemlich erfolgreiche Politik gemacht. Kutschma hat ihn dann 2001 gefeuert. Von da an war klar: Juschtschenko ist ab sofort ein Kandidat für das Präsidentenamt, und zwar ein revolutionärer Kandidat. So entstand bei vielen Menschen eine Stimmung der letzten Chance: Juschtschenko oder der Untergang.

Es kam zum Showdown.

Andruchowytsch: Ja. Die Orangene Revolution war die Geburtsstunde der ukrainischen Nation.

Hat denn das Kind überlebt? Und ist es auf Dauer lebensfähig?

Andruchowytsch: Ich denke schon, ja.

Die Ukrainer haben die Tatsache ihrer Unabhängigkeit von Russland inzwischen verinnerlicht?

Andruchowytsch: Naja, die Meinung, ob es nur mit oder auch ohne Russland geht, ist immer noch geteilt. Für den westlichen Teil der Ukraine ist klar, dass es ohne Moskau gehen muss. Aber fast die Hälfte der Ukrainer hat 2004 trotz allem für den prorussischen Kandidaten Viktor Janukowytsch gestimmt. Die Unabhängigkeit haben die meisten mittlerweile akzeptiert. Aber bei der Frage, welche Politik dieser Staat zwischen Russland und Europa betreiben soll, beginnt der Streit.

War die Orangene Revolution denn langfristig gesehen überhaupt erfolgreich?

Andruchowytsch: 2004 war wichtig. Die Menschen haben damals die Demokratie gelernt. Und das gilt auch für die Janukowytsch-Anhänger. Denn die sind ja ebenfalls auf die Straße gegangen. Und zum anderen ist der innergesellschaftliche Konflikt, der 1991 konserviert worden war, 2004 offen zu Tage getreten. Ich finde das gut! Das ist wie bei einer Krankheit. Man muss oft erst eine Krise durchstehen, um sich auskurieren zu können.

Gibt es denn eine Arznei, mit der die ukrainische Krankheit bekämpft werden könnte?

Andruchowytsch: Diese Krankheit kann nur die Zeit heilen. Aber es gibt doch viele Dinge, die mich optimistisch stimmen.

Welche?

Andruchowytsch: Vor allem die Tatsache, dass separatistische Bewegungen bei uns keine Chance haben. Die Idee, die Ukraine in einen westlichen und einen östlichen Teil aufzuspalten, ist chancenlos.

Wir haben noch gar nicht über den Einfluss des Westens gesprochen.

Andruchowytsch: 1989 bis 1991 war der Westen mit der ukrainischen Frage überfordert. Man schaute nur nach Moskau. Aber das taten wir Ukrainer ja auch. 2004 hätte die Europäische Union allerdings handeln müssen. Es gibt etwas, das man Momentum nennt – der berühmte Mantel der Geschichte, den man ergreifen muss, oder er streicht vorüber. Die EU hat damals nicht zugepackt. 2004 war die ukrainische Gesellschaft mobilisiert. Es fehlte nur das Signal aus Brüssel: Wir sind bereit, euch eine Perspektive in Europa zu bieten. Es fehlte ein Wort: „Ja!” Wir machen die Tür auf – nicht heute, aber ihr seid willkommen.

Warum blieb das Ja Ihrer Meinung nach aus?

Andruchowytsch: Die EU war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Hinzu kommt die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland, von russischer Energie.

Liegt die Zukunft der Ukraine in Europa?

Andruchowytsch: Unbedingt! Und ich glaube, dass in Brüssel die Entscheidung, dass wir dazugehören, gefallen ist. Offen sagt das natürlich niemand. Das würde auch niemandem helfen, weil die Stimmung der Menschen so gespalten ist – in Europa und in der Ukraine. Die Ukraine ist aber in keiner schlechten Lage. Bei uns gibt es eine demokratische Entwicklung. Die EU testet unsere Reife aus. Eine Prüfung ist die Fußball-Europameisterschaft 2012. Das ist eine Probe, ob dieses Land fähig ist, allgemeineuropäische Projekte auf die Beine zu stellen.

Und? Wird es funktionieren?

Andruchowytsch: Ja. Die große Chance, auf einen Schlag, mit einem Sprung nach Europa zu gelangen, haben wir zwar wegen der inneren Querelen verpasst. Aber es wird funktionieren.


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