Armenien

Nagorny Karabach will Sicherheitszonen behalten

Nach dem Abkommen zwischen der Türkei und Armenien über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Öffnung der seit 1993 geschlossenen Grenzen, sind noch viele Fragen offen. Eine Ratifizierung macht der türkische Premierminister nach wie vor von einem Abzug armenischer Truppen aus Aserbaidschan abhängig. Damit gießt er Öl ins Feuer eines fast vergessenen Konfliktes, den Experten jedoch für den gefährlichsten in der Region halten. Seit dem Krieg um die von in Aserbaidschan liegende und von Armeniern bewohnte Enklave Nagorny Karabach halten armenische Truppen ein Fünftel des Nachbarstaates besetzt. Eine Aufgabe der Sicherheitszonen komme für Karabach-Armenier nach wie vor nicht in Frage, sagt der Außenminister der nicht anerkannten Republik Nagorny Karabach, Grigori Petrosjan, im n-ost-Interview.

Herr Petrosjan, Armenien und die Türkei haben beschlossen, diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Die Türkei will die Grenze, die es vor 18 Jahren wegen des Karabach-Krieges geschlossen hatte, wieder öffnen. Wie beurteilen Sie dieses Abkommen?

Petrosjan: Armenien und die Türkei sind unabhängige Staaten und haben das Recht, Entscheidungen zu treffen, die sie im Sinne der eigenen Bevölkerung für gut und richtig halten. Die Türkei hat damals mit der Grenzschließung versucht, Armenien unter Druck zu setzen und die Position der aserbaidschanischen Truppen zu stärken, die Nagorny Karabach einnehmen und ethnisch säubern wollten. Diese Politik hat keine Ergebnisse gebracht. Im Gegenteil. Sie hat die Entwicklung der Grenzregionen in beiden Ländern enorm behindert. Ankara hat 18 Jahre gebraucht, um das zu erkennen. Ich möchte die türkischen Politiker zu ihrer Erkenntnis beglückwünschen.


Grigori Petrosjan, Außenminister von Nagorny Karabach. / Mirko Schwanitz, n-ost

Der türkische Premier hat nur einen Tag nach Unterzeichnung der Verträge auf einem Parteitag erklärt, dass man nicht aufeinander zu gehen könne, wenn nicht endlich die Besetzung aserbaidschanischen Territoriums durch die Karabach-Armenier beendet wird.

Petrosjan: Nach unserem Wissen steht davon nichts in den unterzeichneten Verträgen. Im Gegenteil: Im Vorfeld der Verträge hat die Türkei sich bereit erklärt, das Karabach-Problem nicht mit der Grenzöffnung zu verknüpfen. Wir hören schon lange, dass das Karabach-Problem als eine Bedingung für die Öffnung der Grenze gemacht wird. Dabei macht sich die Türkei Argumente Aserbaidschans zu eigen, nach denen wir Karabach-Armenier Aggressoren sind.

Sind Sie das nicht? Sie halten seit dem Karabach-Krieg ein Fünftel aserbaidschanischen Territoriums besetzt. Aghdam, einst drittgrößte und eine der schönsten Städte Aserbaidschans liegt in Trümmern. Hunderttausende Flüchtlinge warten vergeblich, dass sie zurückkehren können…

Petrosjan: Diese Argumentation ignoriert völlig die Ursachen. Im Februar 1988 wurden im aserbaidschanischen Sumgait Massaker an der armenischen Minderheit verübt und Armenier aus den aserbaidschanischen Grenzgebieten vertrieben. Das schürte unter den in Berg Karabach lebenden Armeniern massive Ängste und führte zur Forderung nach einer Vereinigung mit Armenien. Alle Bemühungen um unsere Unabhängigkeit waren völlig friedlich. Doch dann vertrieben die Aserbaidschaner alle Armenier aus Baku und weiteren Dörfern. Erst als Aserbaidschan 1991 begann, Stepanakert zu bombardieren, und die Stromverbindungen kappte, kam es zu einem Referendum, in dem sich die überwältigende Mehrheit der Karabach-Armenier für die Unabhängigkeit aussprach. Darauf antwortete Aserbaidschan dann mit einem offenen Krieg.

...den die Armenier gewannen. Sie schufen sich eine direkte Landverbindung zu Armenien, indem sie den Latschin-Korridor eroberten und darüber hinaus weitere Gebiete rund um Nagorny Karabach, die sie bis heute besetzt halten.

Petrosjan: Das ist richtig. Aber es war der einzige Weg, um unsere Sicherheit zu garantieren. Gerade von dort aus wurden ja unsere Dörfer und Städte beschossen. Diese Gebiete betrachten wir heute als Pufferzonen, die unsere Sicherheit garantieren.

Es bleibt aber eine Tatsache, dass im Völkerrecht das Prinzip der territorialen Integrität über dem Recht auf Unabhängigkeit steht. Unter welchen Umständen wären die Karabach-Armenier bereit, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen und den Flüchtlingen eine Rückkehr zu ermöglichen?

Petrosjan: Die Lösungsmöglichkeiten, die uns zurzeit von der internationalen Gemeinschaft, der Minsker Gruppe und anderen angeboten werden, sind darauf gerichtet, die unmittelbaren Folgen des Krieges zu beseitigen. Damit aber würde der zweite Schritt vor dem ersten gemacht. Für uns bestünde der erste Schritt darin, jene Probleme zu lösen, die am Anfang des Krieges standen.

Welche Lösungen könnten Sie sich als Außenminister vorstellen?

Petrosjan: Zunächst einmal möchten wir mit am Verhandlungstisch sitzen und jede Frage in zivilisierter Form besprechen. Wir würden völlig offen in solche Gespräche gehen. Nur das kann Ergebnisse bringen und ist – siehe Kosovo und Ramboulllet – eine gängige Praxis.

Welche Vorschläge würden Sie machen, wenn Sie am Verhandlungstisch säßen?

Petrosjan: Dazu kann ich jetzt nichts sagen. Ich kann nur sagen, dass es bisher kein einziges offizielles Gespräch zwischen Vertretern der Minsker Gruppe und Vertretern von Nagorny Karabach gegeben hat. Frieden kann man nur erreichen, wenn man mit den Betroffenen direkt spricht. Wir sind die direkt Betroffenen. Es geht um unsere Sicherheit und die Garantien, die am Ende dieser Gespräche für die Sicherheit der Armenier in Karabach und aller Flüchtlinge stehen.

Die Demilitarisierung der Sicherheitszone wird von der Minsker Gruppe als eine solche Garantie angesehen. Wäre das der erste mögliche Schritt, um zu einer Lösung zu kommen?

Petrosjan: Ich betone noch einmal: Keine Lösung ist akzeptabel, die ohne Mitwirkung der Bevölkerung und der Regierung von Karabach ausgehandelt wird. Wir verlangen, dass wir als vollwertige Verhandlungspartner anerkannt werden. Das immer wieder vorgebrachte Argument, man wolle mit Nagorny Karabach keinen Präzedenz-Fall schaffen, ist angesichts der im Kosovo, Südossetien und Abchasien geschaffenen Realitäten lächerlich.

Sie sind also der Meinung, dass man die Situation im Kosovo und in Nagorny Karabach vergleichen kann?

Petrosjan: Wenn wir uns die Argumente anschauen, mit der die internationale  Anerkennung Kosovos begründet wurde, stellen wir fest, dass sie sich kaum von denen unterscheiden, mit denen wir auf unserer Unabhängigkeit beharren.

Sie sagen „kaum“. Worin bestehen Ihrer Meinung nach die Unterschiede?

Petrosjan: Eigentlich nur in einem: Auf unserem Gebiet hat es nie Friedenstruppen gegeben. Im Kosovo war doch eines der Ausschlag gebenden Argumente, dass man intervenieren musste, um einen Völkermord zu vermeiden. Nun, die Armenier leben mit der Erinnerung an einen solchen Völkermord und aus dieser Erinnerung heraus war für uns die Gefahr eines erneuten Völkermordes auch in den Jahren 1988 bis 1994 sehr real. Der Unterschied zu den Kosovo-Albanern ist, dass wir es geschafft haben, uns selbst zu organisieren und diese Gefahr aus eigenen Kräften zu bannen.

Wenn die internationale Gemeinschaft ihnen eine Form der internationalen Anerkennung gegen die Räumung der besetzten Gebiete und Garantien für die Sicherheit von Nagorny Karabach anbieten würde – wäre das für Sie akzeptabel?

Petrosjan: Gab es so einen Vorschlag schon? Wenn uns solch ein Vorschlag gemacht würde, würden wir uns damit ernsthaft auseinandersetzen. Im Moment sehen wir nur zwei Alternativen zum gegenwärtigen Status Quo: Die eine ist ein erneuter Krieg. Niemand will das. Die andere wären wirklich schwerwiegende Garantien. Eine solche Garantie wäre die Herstellung eines Gleichgewichts der Kräfte in der Region. Vor allem aber der sichtbare politische Wille Aserbaidschans zum Frieden. Leider sieht die Realität zurzeit anders aus.

Was meinen Sie konkret?

Petrosjan: Der aserbaidschanische Militärhaushalt übersteigt den gesamten Staatshaushalt Armeniens. Aserbaidschaner, die beim Eurovision-Song-Contest für den armenischen Beitrag gevotet haben, werden verfolgt und drangsaliert. Wer die aserbaidschanische Politik beobachtet, wird feststellen: Hier wird Hass geschürt. Wir erziehen unsere Kinder nicht zum Hass, sondern zu Mut. Das ist im Moment die einzige Garantie für unsere Sicherheit. Wie sagte der armenische Präsident vor kurzem: Wir wollen keinen Krieg. Aber wir haben auch keine Angst vor ihm. Wer will, kann probieren, mit uns in den Krieg zu treten. Dem kann ich nur zustimmen.


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