Medwedew braucht kritische Medien
(n-ost) – In Russlands gelenkter Medienlandschaft tun sich in diesen Tagen überraschend große Lücken für kritische Berichte auf. Was jetzt passiert ist, hat Russland noch nie erlebt. Drei Polizisten beschwerten sich nacheinander via YouTube über schlechte Arbeitsbedingungen, korrupte Polizisten und manipulierte Strafverfahren.
Den Anfang der öffentlichen Beschwerden machte der Kriminalbeamte Aleksej Dymowski aus der südrussischen Stadt Noworossisk. Sein Beschwerde-Video schaffte es nach wenigen Tagen auf 690.000 Klicks. Polizei-Major Dymowski wurde wegen seiner öffentlichen Kritik umgehend gefeuert. Aus Angst vor der Rache seiner ehemaligen Vorgesetzten heuerte er einen Leibwächter an.
Die öffentliche Kritik gleich mehrerer Polizisten ist im autoritär regierten Russland einmalig. Sie könnte ein Echo sein auf die Appelle des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew, den Kampf gegen die Korruption zu verstärken. Medwedews Aufrufe, Russland müsse sich schleunigst modernisieren, wenn es nicht wirtschaftlich zurückfallen wolle, wecken zudem Erinnerungen an Michail Gorbatschow. Er versuchte, mit den Forderungen nach Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umgestaltung) den Staat von oben zu modernisieren. So löste Gorbatschow in der damaligen Sowjetunion eine breite Debatte über die Fehler des Systems aus.
Heute werden drei von vier nationalen Fernsehkanälen vom Kreml an der kurzen Leine geführt. Das geht zurück auf den heutigen Ministerpräsidenten Wladimir Putin, der vor acht Jahren als Präsident begonnen hatte, die Medien unter strenge staatliche Kontrolle zu stellen. Doch das Blatt wendet sich. Bei dem privaten Kanal Ren TV kommt die Opposition zu Wort. Es gibt zudem Zeitungen und Anzeigenblätter, die ausführlich über die Opposition berichten.
Die Zensur wie zu sowjetischen Zeiten sei vorbei, befand Star-Moderator Wladimir Posner in einem Interview. Stattdessen gebe es eine „kolossale Selbstzensur“. Der Star-Moderator interviewt in seinem mäßig kritischen Programm „Posner“ im „Ersten Kanal“ Oligarchen und Politiker. Die staatlichen Fernsehkanäle hätten eine Glaubwürdigkeitslücke, befand der Moderator. „Tabu-Themen greifen die staatlichen Kanäle nicht auf“, und die Bevölkerung fühle, „dass da irgendetwas nicht stimmt“.
Deshalb lässt der Kreml gelegentlich die Zügel etwas lockerer. So brachte der Fernsehsender NTW kürzlich aus St. Petersburg mehrere Reportagen über erfolgreiche Anwohner-Proteste gegen den Bau eines Hochhaus-Projekts der gehobenen Preisklasse. Der Erste Kanal zeigte den in St. Petersburg geplanten 400 Meter hohen Gasprom-Wolkenkratzer in einer ungünstigen Einstellung, die nur einen Schluss zuließ: Das Gasprom-Monstrum werde das klassisch gewachsene Stadtbild der Newa-Stadt für immer zerstören. Prompt gab es Kritik aus der Gasprom-Zentrale. Russkij Newsweek – ein Wochenmagazin aus dem deutschen Springer-Verlag (Auflage: 51.000) – vermutet hinter dem Fernsehbericht eine Intrige des Kreml. Sie soll gegen den selbstherrlichen Gasprom-Chef Aleksej Miller und die selbstbewusste Gouverneurin von St. Petersburg Walentina Matwijenko gerichtet sein.
Die russischen Journalisten, die versuchen kritisch zu berichten, gehören zum Großteil dem liberalen Lager an. Putin hat sie 2001 aus den nationalen Fernsehsendern verdrängt, doch das liberale Lager hat immer noch wichtige Medien in seiner Hand: Dazu gehören die dreiwöchentlich erscheinende Nowaja Gaseta (Auflage 280.000), die Tageszeitung Kommersant (Auflage 80.000), das Wochenmagazin The New Times (50.000), das Info-Radio Echo Moskwy mit einer täglichen Hörerschaft von 900.000 Menschen sowie die populären Internetzeitungen newsru.com und gazeta.ru.
Die kritischen Medien völlig mundtot zu machen, daran hat der Kreml offenbar kein Interesse. Für sein Projekt, Russlands Wirtschaft und Verwaltung zu modernisieren, hofft Präsident Medwedew schließlich auch auf die Unterstützung der kritischen Medien. Denn eigensüchtige Beamte und rohstoff-süchtige Oligarchen würden sich den Modernisierungs-Plänen widersetzen, prognostizierte Medwedew in seinem Grundsatz-Artikel „Vorwärts Russland“.
Erste Kontakt-Aufnahme mit der Opposition von Seiten des Kreml gab es bereits im Januar. Nach dem Doppel-Mord an dem linken Anwalt Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasija Baburowa lud Präsident Medwedew Dmitri Muratow, den Chefredakteur der Nowaja Gaseta, und Michail Gorbatschow, einen der Eigentümer der Zeitung, ein. Im Kreml sprach er ihnen sein Beileid aus. Unter dem Präsidenten Wladimir Putin wäre solch eine Geste undenkbar gewesen.
Ulrich Heyden
ENDE
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