Russland

Putin, we're watching you

Kugelschreiber ritzen über raschelndes Papier und sogar das Rattern der Gehirne scheint im Saal 348 der Internationalen Universität in Moskau hörbar zu sein. Es ist spät, nach 22 Uhr, deshalb legen viele seminarentwöhnte Teilnehmer ihre Stirn in Falten. Alexander Sigatschow leitet eine besondere Vorlesung: Einführung in die Rechte und Pflichten als Wahlbeobachter. Der 30-jährige Russe arbeitet ehrenamtlich für die Organisation „Graschdanin Nabljudatel“ (Bürgerbeobachter). Er ist dem Aufruf des mittlerweile berühmten – und wegen nationalistischer Parolen nicht ganz unumstrittenen – Bloggers Alexej Nawalny gefolgt und war schon bei den Dumawahlen im Dezember als Wahlbeobachter im Einsatz.

Einmal in der Woche erklärt er in einem vierstündigen Seminar den aktuellen Stand der relevanten Gesetze und gibt Tipps für den richtigen Umgang mit Wählern und Vertretern der Wahlkommission. Er selbst wohnt in der Nähe von zwei Wahllokalen, wo regelmäßig unterschiedliche Ergebnisse zustande kommen. Schlampiges Arbeiten sei aber nicht das Hauptproblem. „Die untersten Beamten in der administrativen Hierarchie bekommen den Auftrag, Parteien eine bestimmte Anzahl an Stimmen zuzuordnen. Das könnten zum Beispiel 60 Prozent für die Kremlpartei ‚Einiges Russland‘ sein“, sagt er. „Meinungen, die sich über den Wahlkampf nicht haben formen lassen, entstehen so künstlich auf dem Papier.“ Das empört den jungen Russen. „In einem demokratischen Land darf es das nicht geben.“

Die stark besuchten Demonstrationen von St. Petersburg bis Wladiwostok haben gezeigt, dass sich die Bevölkerung keinen zweiten Wahlbetrug der Regierungspartei gefallen lassen will. Die Forderungen wurden von der russischen Regierung aber größtenteils ignoriert. Der umstrittene Leiter des Wahl-Komitees Wladimir Tschurow, der im Volksmund wegen der Wahlmanipulationen „Zauberer“ genannt wird – ist noch immer im Amt. Lediglich Web-Kameras hat die Regierung installieren lassen – in jedem Wahlbüro zwei.

„Für eine ordentliche Kontrolle des Urnengangs reicht das nicht“, meint Tanja Makarowa. Die 23-Jährige ist am 4. März freiwillige Beobachterin. Die Kommunistische Partei hat ihr dafür die nötigen Papiere unterschrieben. Denn: Als Wahlbeobachter sind nur Vertreter von Medien oder Entsandte von politischen Parteien zugelassen.

Tanja Makarowa betont, selbst unabhängig zu sein. Für sie sind faire Wahlen ein „Schritt in Richtung Demokratie“. Sie hat aber auch Freunde, die ihr ehrenamtliches Engagement nicht verstehen. „Es wird doch sowieso gefälscht, warum machst du dir die Mühe?“ heißt es dann. Schließlich denkt sie selbst, dass ihr Einfluss auf das Wahlergebnis gering sein wird: „Wenn eine Partei wirklich fälschen will, dann findet sie sicher einen Weg. Daran werden auch die Wahlbeobachter nichts ändern. Außerdem bin ich sicher, dass Putin gewinnt.“ Es geht der jungen Russin aber ums Prinzip: „Ich will als mündige Bürgerin alles tun, um mich für die Wahrheit einzusetzen. Ich weiß dann, dass das Ergebnis zumindest in meinem Wahlbüro ehrlich war.“

Von sieben Uhr morgens bis drei Uhr nachts sollen die Wahlbeobachter am 4. März zum Einsatz kommen, möglichst je zu dritt in einem Wahlbüro. Bei 96.000 Wahllokalen in Russland, aber nur 30.000 Freiwilligen ist das unmöglich. Der Ausbilder Sigatschow ist trotzdem zuversichtlich: „Im Dezember waren nur fünf Prozent der Wahlbüros belegt. Diesmal hoffen wir auf 50 Prozent.“ Kommt es zum Gesetzesverstoß während des Wahlgangs, können freiwillige Juristen im Nachhinein mit ihrer Klage vor Gericht ziehen. Da das Wahlprotokoll Grundlage dieser Verhandlungen sein wird, entscheidet letztendlich aber doch die Wahlkommission, worüber diskutiert wird.

Die unabhängige Organisation „Golos“ ist in 40 Regionen vertreten. Doch konzentrieren sich ihre Beobachter auf die Großstädte Moskau, St. Petersburg, Jekaterinburg und Perm. In den Provinzen dünnt sich die Belegung aus. Wirklich zu denken gibt aber die Tatsache, dass kein einziger unabhängiger Wahlbeobachter in Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien eingesetzt wird. Bei den Parlamentswahlen haben angeblich 99,5 Prozent der Tschetschenen für „Einiges Russland“ gestimmt. „Da ist was faul“, ist sich Golos-Chefin Lilia Schibanowa sicher. Dennoch entsendet „Golos“ keine Wahlbeobachter in den Nordkaukasus. Denn dies sei zum einen zu gefährlich, zum anderen wahrscheinlich erfolglos. „Der vom Kreml eingesetzte Präsident Ramsan Kadyrow würde der Regierungspartei auch 140 Prozent der Stimmen zuteilen, wenn Putin das fordert“, kritisiert Schibanowa. Außerdem fehle es der Organisation an finanziellen Mitteln.

Wie groß der Einfluss der Wahlbeobachter bei den Präsidentschaftswahlen wirklich ist, wird sich laut Olga Kamentschuk erst nach den Wahlen zeigen. Die Soziologin arbeitet am Meinungsforschungsinstitut „Wsiom“ in Moskau. Sie teilt die Beobachter in verschiedene Gruppen ein, die jeweils sehr unterschiedlich motiviert sind. Nicht alle seien in der Lage, Informationen, die sie über Wahlfälschungen haben, auch mit anderen Menschen zu teilen – im sozialen Netzwerk Facebook etwa und über Twitter. Diese seien aber am einflussreichsten.

Laut „Wsiom“ hat jeder fünfte Russe nach den Dezemberprotesten ein Stück Vertrauen in die russische Regierung verloren. Schon jetzt haben die Proteste also die Meinung der Menschen beeinflusst, allerdings eher innerhalb eines Netzwerks, dessen Teilnehmer ohnehin schon regimekritisch eingestellt waren. Olga Kamentschuk erklärt: „Nach der Wahl wird sich zeigen, ob die Ideen der Protestbewegung auch auf andere soziale Gruppen abfärben. Es geht dann um eine Verzahnung der ‚Protestklasse‘ mit anderen Strömungen. Jetzt ist auch noch nicht klar, ob sich am politischen System wirklich etwas ändern wird.“

Nach der letzten offiziellen Berechnung des Forschungsinstituts „Wsiom“ wird Wladimir Putin die Präsidentschaftswahl mit 58 Prozent der Stimmen gewinnen. Stärkster Gegenkandidat ist der Kommunist Gennadi Sjuganow. Doch tendenziell steigert sich die Zustimmung für den amtierenden Ministerpräsidenten sogar noch.


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