Bosnien-Herzegowina

Auf dem Spielplatz fängt Versöhnung an

Das Gotteshaus passt nicht ins Bild. Die Zwiebelkuppeln wirken wuchtig, das Gebäude viel zu groß geraten für solch einen Ort: Fliegende Händler, die CD-Raubkopien vollbusiger Balkan-Popmusikdiven feilbieten, eilen geschäftig an einer langen Lastwagenkolonne vorbei. Die orthodoxe Kirche, direkt am kroatisch-bosnischen Grenzübergang Gradiska, lässt keinen Zweifel daran, wer hier dominiert: Willkommen in der Republika Srspka, dem serbischen Landesteil Bosnien-Herzegowinas. Eine Enklave, die im jüngsten Bosnienkrieg (1992-1995) durch Flucht, Vertreibung und internationale Verträge entstanden ist. Vorbei an Motels mit kitschigen Leuchtgirlanden zeichnet sich nach einer knappen Stunde Autofahrt Banja Luka ab, die Hauptstadt der bosnischen Serbenrepublik. Hier lebt Sajma Gajetic, eine Muslimin.


Sajma Gajetic / Veronika Wengert, n-ost


Ein halbes Dutzend Stühle, ein Tisch, ein betagter Computer – mehr passt nicht in den winzigen Büroraum im örtlichen Kulturhaus. Von hier aus leitet die 73-jährige Sajma, eine gepflegte Dame mit hellbrauner Dauerwelle, Bluse und Kostüm, eine Organisation, die in der größtenteils von Serben bewohnten Teilrepublik von Bosnien-Herzegowina alles andere als selbstverständlich ist: Eine multiethnische Frauengruppe, die nicht nach Glauben, Herkunft oder Nationalität fragt – sondern für alle offen ist. Man trifft sich zum Singen und Basteln oder zu Vorträgen über Diabetes oder häusliche Gewalt. Und hilft anderen, freilich ohne Bezahlung. Sei es mit der Beschaffung eines Ultraschallgeräts für werdende Mütter auf dem Land, einem Schneider-Workshop für arbeitslose Frauen, oder mit Lebensmittelpaketen für alte Menschen, die oft mit einer Rente von 80 Euro pro Monat auskommen müssen.

„Das war ein dorniger Weg“, erinnert sich Sajma an die Anfänge der Organisation vor neun Jahren. Man sei auf Vorbehalte gestoßen. Denn die 300.000 Einwohner von Banja Luka sind fast ausschließlich Serben. Von den rund 10.000 Kroaten und 30.000 Moslems sind im Bosnien-Krieg fast alle vertrieben worden. Wer blieb, war meist in einer binationalen Ehe – so wie Sajma, die seit 50 Jahren mit Pero, einem Serben, verheiratet ist.

Inzwischen hat die Frauenorganisation jedoch 170 Mitglieder. Unterstützung gibt es zwar immer wieder, aber hauptsächlich aus dem Ausland, sagt Sajma. Sie weiß nicht, wie sie im kommenden Herbst die Telefonrechnung bezahlen soll. Doch Sajma ist optimistisch: Es werde schon irgendwie weiter gehen. „Zene to mogu“ (Frauen können das), sagt die energische Aktivistin. Nicht ohne Grund hat sich die multiethnische Frauengruppe diesen Satz als Namen gegeben.

Im alten Jugoslawien leitete Sajma den damaligen staatlichen Frauenverband in Banja Luka, der mehrere tausend Mitglieder hatte. Ob Muslima, katholische Kroatin oder orthodoxe Serbin – im Vielvölkerstaat Jugoslawien fragte niemand danach, woher man stammte oder an wen man glaubte. Gerade Bosnien-Herzegowina galt als multiethnische Vorzeigerepublik, jede sechste Ehe war hier binational. Dann sei es plötzlich, „aus unverständlichen Gründen“, so Sajma, „zu einem bislang nie da gewesenen Nationalismus gekommen“. Der Bosnienkrieg brach aus. Viele wurden über Nacht aus ihren Wohnungen und Städten vertrieben, nur weil sie die vermeintlich falsche Volkszugehörigkeit hatten. „Am schlimmsten erging es den Menschen dort, wo sie eine Minderheit waren“, sagt Sajma. Sei es bei den Kroaten und Moslems in Banja Luka oder den Serben in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo. Die Bevölkerungsstruktur in ihrer Stadt habe sich völlig geändert, so Sajma. Heute stammen schätzungsweise zwei Drittel der Serben in Banja Luka aus anderen Gegenden Bosnien-Herzegowinas oder aus dem Nachbarland Kroatien. Dort mussten sie am 5. August 1995 aus der serbisch besetzten Krajina flüchten, wurden in der Militäroperation „Oluja“ (Sturm) systematisch vertrieben. Der Tag wird bis heute in Kroatien als „Tag der heimatlichen Dankbarkeit“ feierlich begangen.

Nach dreieinhalb Jahren beendete der Vertrag von Dayton schließlich 1995 den Krieg in Bosnien und spaltete das Land in zwei Hälften: Die bosniakisch-kroatische Föderation mit Sarajevo als Hauptstadt und die Republika Srpska mit serbischer Mehrheit und Banja Luka als Zentrum. Beide Entitäten sind weitgehend autonom, sie bilden heute gemeinsam mit dem gemeinsam verwalteten Sonderbezirk Brcko den international anerkannten Staat Bosnien-Herzegowina.

Die Serbenrepublik Republika Srpska droht seither immer wieder mit einer Abspaltung. Und im kroatisch dominierten Landesteil Herzegowina fühlt man sich Zagreb näher als der eigenen Hauptstadt Sarajevo. Experten kritisieren immer wieder das ethnisch komplizierte Konstrukt, das 140 Minister in zehn Verwaltungskantonen hervorgebracht hat – und zwei Drittel des Staatshaushalts verschlingt. Gelder, die für den Wiederaufbau der stagnierenden Wirtschaft eingesetzt werden könnten.

Banja Luka war im Bosnien-Krieg nicht direkt umkämpft, doch der psychische Druck war enorm: Kroaten und Moslems verloren ihre Arbeit, viele wurden zur serbischen Armee gezwungen oder gewaltsam aufgefordert, ihre Wohnungen zu verlassen – um Platz für die serbische Bevölkerung zu machen, die wiederum aus anderen Gebieten flüchten musste. Ein Teufelskreis der Vertreibung begann. Im örtlichen Standesamt gab es eine Zeit lang einen Sonderschalter, in dem binationale Ehen binnen weniger Minuten einfach aufgelöst werden konnten. In Banja Luka wurden vor allem muslimische Einrichtungen mutwillig zerstört.

Auch die Fenster in Sajmas Haus wurden drei Mal eingeschlagen, die Moscheen der Stadt kurzerhand gesprengt. So wie die Ferhadija, ein Bauwerk alter osmanischer Baumeister, das fast ein halbes Jahrtausend im Zentrum von Banja Luka thronte. Erst nach Jahren hat man begonnen, die historische Moschee wieder aufzubauen.

Nun dreht sich dort der gelbe Baukran. Stein für Stein wird die Moschee wieder aufgebaut, nur wenige hundert Meter von der glitzernden orthodoxen Hauptkirche des Landes entfernt. Das Leben gehe weiter, sagt Sajma. „Langsam haben die Menschen erkannt, dass wir alle in einem Boot sitzen. Alle haben alles verloren, die meisten sind heute arm und ohne Arbeit“, sagt sie. Die drei Großbetriebe vor Ort produzierten längst nicht mehr, zehntausende Menschen sind ohne Arbeit, erzählt Sajma. Eine Mittelklasse fehle im neuen Staat komplett. Dafür sei eine dünne Schicht von Kriegsprofiteuren entstanden. Vielleicht ein Zehntel der Bevölkerung, schätzt Sajma.

Auf ein Projekt sind Sajma und ihre Frauen besonders stolz: Auf einen multiethnischen Spielplatz im Vorort Vrbas, wo heute serbische und muslimische Kinder miteinander spielen. Die Ortsverwaltung stellte ein Grundstück bereit, dass geebnet und umzäunt wurde. Sajma zeigt Fotos von dem Bau vor vier Jahren. „Bei der Rodung des Platzes halfen alle Männer im Ort mit“, erzählt sie. Es sei das erste größere gesellschaftliche Ereignis nach dem Krieg gewesen. Jetzt kann man dort Wippen, Schaukeln und Ball spielen. An diesem Nachmittag, kurz nach dem Mittagessen, wartet Mirsad dort bereits auf einer Parkbank. Der Junge mit den dunklen Stoppelhaaren kommt jeden Tag hierher, um Fußball zu spielen. Um die 20 Buben würden sich immer einfinden, sagt Mirsad, der einen muslimischen Namen trägt. Viele seiner Fußballfreunde sind Serben. Auf dem Spielplatz wird nicht nach Ethnie oder Nationalität gefragt.

Das bestätigt auch Dane Marjanovic vom örtlichen Gemeindezentrum, der hier öfter nach dem Rechten sieht. Vor einigen Jahren habe es noch verbale Provokationen unter serbischen und muslimischen Kindern gegeben. „Sie bekommen das ja zu Hause mit, von den Eltern“, sagt Dane. Doch in letzter Zeit sei dies nicht mehr vorgekommen. „Auch wenn solch ein friedliches Miteinander anderswo vielleicht der Normalzustand ist, wir freuen uns hier über solch eine Entwicklung“, sagt der junge Gemeindemitarbeiter.

Der blutige Bosnien-Krieg trennte Serben, Bosniaken und Kroaten nicht nur, sondern zerstreute viele von ihnen in alle Welt. Sajma flüchtete während des Kriegs nach London, wo ihr Sohn lebte. Dort habe sie Inder, Asiaten, Schwarze gesehen. Und ihren Sohn gefragt, wo denn die ganzen Engländer seien. Doch der habe nur gelacht. „Mama, das sind Engländer, sie leben schon seit Generationen hier“. Solch eine wirklich multiethnische Gemeinschaft wünsche sie sich auch für ihre Heimat, sagt Sajma. Der Spielplatz zum Beispiel, glaubt sie, könne ein erster Schritt dorthin sein.


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