Griechenland

Skandal um Massengrab für illegale Flüchtlinge

Ein einsamer unasphaltierter Weg auf einem Hügel in der Nähe des muslimischen Dorfs Sidiro an der türkisch-griechischen Grenze. An einer Stelle ist die Erde frisch aufgegraben. Kleine Erdhaufen bilden sich 20 Meter entlang des Weges. Ein paar Meter weiter im Feld steht ein Baum, vor ihm ein weißes Schild mit der schwarzen Aufschrift: „Friedhof der illegalen Immigranten, Muslimische Gemeinschaft von Evros“. Die Buchstaben sind schwer zu erkennen. Der Text ist von Gewehrkugeln durchsiebt.

Das makabere Schild ist der einzige Hinweis darauf, dass an diesem Ort Menschen verscharrt sind. Bei ihrem Versuch, in die Europäische Union zu gelangen, sind sie im Fluss Evros ertrunken. Unter ihnen befinden sich zahlreiche Flüchtlinge aus Afghanistan, Somalia, dem Irak und aus Palästina, die meistens von Schleppern an die türkisch-griechische Grenze gebracht werden. Auf Schlauchbooten oder schwimmend versuchen sie, von verschiedenen Stellen den 80 Kilometer langen Fluss zu durchqueren. Doch viele kommen dabei ums Leben.

„Friedhof der illegalen Migranten. Muslimische Gemeinschaft von Evros“ steht auf dem weißen Schild, das mit Gewehrkugeln durchsiebt ist. Foto: Chrissi Wilkens
Im naheliegenden muslimischen Friedhof des Dorfes gibt es keinen Platz, um die unbekannten Leichen zu begraben, erklärt der Imam von Sidiro, Mehmet Serif Damadoglou. Deswegen hat die muslimische Gemeinschaft von Evros diesen Hügel ausgesucht. Der Ort hat noch nicht einmal die erforderliche Genehmigung vom Gesundheitsamt, gibt Damatoglou zu. Er zögert kurz, bis er die Zahl derjenigen nennt, die hier begraben wurden. „Es sind über 95 Menschen. Ihre Identität ist unbekannt. Wir waschen sie, wir wickeln sie in Leichentücher, wir öffnen das Grab und setzen sie nach islamischem Gesetz bei.” Allein im Juni wurden hier 15 Leichen begraben. Eine Gruppe von somalischen und afghanischen Flüchtlingen hatte die gefährliche Reise nicht überlebt.

Die Provinz Evros ist einer der Haupteingangstore für Migranten und Flüchtlinge aus Asien und Afrika. Nur wenige schaffen es auf die andere Seite des Flusses, wo sie in Auffanglager kommen. Noch vor einem Jahr gab es auch Minenopfer in der Region. 1974 wurden die Ostgrenzen Griechenlands nach der türkischen Invasion auf Zypern vermint. Offiziell hat sich Griechenland verpflichtet, die Felder bis 2008 zu räumen.

Seit der europäische Grenzschutz Frontex seine Kontrolle an der ostägäischen Küste verstärkt hat, ist die Anzahl der Ankünfte in der Evros-Provinz drastisch gestiegen. In Orestiada im Evros-Gebiet wurden in den ersten sieben Monaten des Jahres laut Polizeiangaben mehr als 14.000 Menschen verhaftet, die die Grenzen überschritten hatten. Zum Vergleich: 2009 waren es knapp 3.500. Auch die Todesfälle haben sich vermehrt. Alleine dieses Jahr wurden 38 Menschen tot aufgefunden. Voriges Jahr waren es drei.

Die Leichen befänden sich oft in einem sehr schlechten Zustand. Körperteile fehlten, manchmal sei es noch nicht einmal möglich, das Geschlecht zu erkennen, sagt der Imam. Im Auftrag des griechischen Staates sollen die Leichen in den wenigen muslimischen Friedhöfen der Region bestattet werden. Verantwortlich für die Bestattung ist der Imam der Region.

Doch der Hügel gleicht keinem Ort, an dem Menschen würdig begraben werden. Ein gelber Plastikhandschuh ragt aus der Erde, ein paar Meter weiter liegt zerknüllt am Boden der Zettel eines Bestattungsinstituts. Ein paar verstaubte Holzbretter sind am Boden verstreut. Sie dienen dazu, die Leichen in die Erde zu schieben. Die Toten werden in Plastiksäcken aus dem Krankenhaus transportiert, nachdem ihnen eine DNA-Probe entnommen wurde und sie in den Akten der Polizei registriert worden sind. Auf die Leichensäcke wird mit einem Stift das DNA-Kennzeichen geschrieben.

„Vor ein paar Monaten sind Familienangehörige aus Pakistan gekommen und haben zwei Verwandte gesucht. Wir haben sie gefunden. Wir haben die Gräber geöffnet. Wir registrieren die Leichen mit Nummern, dem Datum und dem Ort, an dem sie aufgefunden wurden. Wir wissen, wo jede Leiche begraben worden ist“, betont der Imam Damatoglou. „Ungefähr“, fügt er schnell zu.

Internationale Organisationen sind entsetzt über die Zustände. „Ein Massengrab“, kritisieren die Aktivisten des Netzwerkes „Welcome to Europe”. Sie haben im Auftrag einer Afghanin, die seit zwei Monaten ihren Mann vermisst, vor Ort recherchiert. „Die Verstorbenen werden ohne jeden Respekt verscharrt. Auch eine Exhumierung ist auf diese Weise nicht mehr möglich, falls Angehörige ihre Toten an einem anderen Ort beerdigen wollen“, so der Vorwurf der Organisation. „Die Existenz dieses Massengrabes an der EU-Außengrenze Griechenlands zeigt auf schockierende Weise die ganze Brutalität des Grenzregimes.“

Die griechische Regierung hat dagegen noch nicht auf die Vorwürfe reagiert. Nur der stellvertretende Präfekt von Evros, Ioannis Papaioannou, dementiert: „Die Leichen werden nach islamischem Brauch bestattet. Das ist kein Massengrab.”

Der Gerichtsmediziner der Provinz, Pavlos Pavlidis, ist der erste, der die Leichen untersucht und ihnen ein Identitätszeichen gibt. Er sitzt in seinem Büro im Krankenhaus von Alexandroupolis, der Provinzhauptstadt. „Wenn die Menschen tatsächlich massenhaft begraben werden. sind unsere Arbeit und die der Polizei umsonst“, kritisiert er. Pavlidis hat die Staatsanwaltschaft und die Präfektur informiert, damit untersucht wird, wie der Imam bei der Beerdigung der Menschen vorgegangen ist.

Mit einer spontanen Geste haben Unbekannte versucht, die Würde der Toten zu wahren. Innerhalb von wenigen Stunden, nachdem die Nachricht in den Medien verbreitet wurde, ist das Wort „illegale“ auf dem Schild übersprayt worden.


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