Russland

„Geht doch ins Business“

„Sagen Sie Ihrem Chef, das ist ein Anruf aus der Akademie der Wissenschaften!“ Alexej wischt den Schweiß von der Stirn. Es ist heiß in dem Büro ohne Fenster, das einst die ganze Europa-Abteilung eines florierenden gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituts in Moskau beherbergte. Heute arbeiten hier nur noch wenige Menschen. Draußen ist ein schöner Spätsommertag. Im Büro ist nichts davon zu spüren. Der kleine Ventilator oben an der Decke, so alt wie alles hier, bemüht sich fleißig, die stickige, staubige Luft in sanften Wind umzuwandeln. „Was? Nein, wir wollen um nichts bitten! Wir wollen etwas vorschlagen!“ Das Gesicht des sechzigjährigen Alexej, der seinen Nachnamen lieber nicht nennen möchte, läuft rosa an. Aber er bleibt hartnäckig: „Wir bräuchten einen Forschungsbeitrag über die Linke in der EU und wir dachten, dass Ihr Chef...“ Es ist ausgerechnet die  Repräsentanz einer deutschen parteinahen Stiftung, die sich am anderen Ende der Leitung verweigert. Die Akademie der Wissenschaften ist kein interessanter Partner mehr.

Dabei war es diese Akademie, die schon in der Spätsowjetzeit liberale Wissenschaftler beschäftigte: Andrej Sacharow, Dmitrij Lichachew und viele andere nutzten ihre akademische Autorität für ihr demokratisches Engagement. Es war nicht zuletzt die Moskauer Intelligenzia, die im August 1991 auf die Barrikaden ging, um die Freiheit zu verteidigen.

Anfang der 1990er Jahre war Alexej auf die Medaille „Dem Verteidiger des freiheitlichen Russland“ stolz, die er von der Regierung erhielt. Inzwischen will er nichts mehr davon hören. Der begehrte „frische Wind der Freiheit“, den die russische Intelligenzija nach dem Zerfall der Sowjetunion beglückt eingeatmet hatte, schlug ihr schon bald ins Gesicht: Nach Regierungsangaben verließen Russland in den 1990er Jahren 35.000 Wissenschaftler; der UN-Bevölkerungsfonds spricht sogar von 3 Millionen. In den „wilden 90ern“ galt Wissenschaft als Verlustgeschäft, sie wurde unterfinanziert und erniedrigt.

Auch den ambitionierten Wünschen des heutigen russischen Regierungstandems, die Wissenschaft zu erneuern, steht sein eigenes Denken im Wege. „Wer Geld verdienen will, der geht nicht in die Wissenschaft“, sagte Präsident Medwedew auf dem Treffen mit Studenten im Frühjahr 2011. „Geht doch ins Business, dort lässt sich gutes Geld verdienen“.

Das von der Regierung proklamierte Interesse an der Wiedergeburt der Wissenschaft ist auf die Kommerzialisierung der angewandten Forschung gerichtet und geht an der Akademie vorbei. Zwar verfügt diese stärkste wissenschaftliche Struktur Russlands noch über drei regionale Abteilungen, dreizehn regionale Zentren, sie beherbergt 426 Forschungsinstitute und ihnen angegliederte Strukturen: Forschungsflotte, Bibliotheken, Verlage, Kliniken. Gegen alle Versuche der Putin-Regierung, sie unter dem Vorwand ihrer „Reform“ zu enteignen, wehrte sie sich mit Händen und Füssen. Sie behielt ihre Immobilien und Grundstücke, Waldflächen und Naturschutzgebiete. Dafür verlor sie aber die Gunst der Macht.

Mit einem vom Präsidenten Medwedew favorisierten Projekt eines Innovationszentrum im Moskauer Vorort Skolkowo wird versucht, eine Art zweiter Spitzenwissenschaft aufzubauen, die mit staatlicher Unterstützung versehen die Akademie verdrängen soll. Die künftige russische Wissenschaft soll sich, nach dem Willen Medwedews, ohnehin nur auf fünf Säulen gründen: Energie, IT, Telecom, Biotech und Nukleartechnologie.  Die Geisteswissenschaften werden in die Erneuerungsprogramme nicht einbezogen.

Dieses fehlende Interesse der Macht an allem, was sich nicht sofort vermarkten lässt, lässt sich am Zustand der Institute erkennen. Das Institut, wo Alexej arbeitet, ein ambitioniertes Werk der Architektur der 70er Jahre, hat viele Phasen des Verfalls hinter sich. Zuerst trocknete der Wasserpool vor dem Institut aus, der die Kühlungssysteme bediente. Dann zerfiel die Brücke, die zum pompösen Haupteingang führte. Eine Weile später zerfielen auch die Seitentreppen. Seitdem benutzen die Mitarbeiter und Besucher einen Notausgang. Der Haupteingang ist gesperrt. Und das seit Jahren.

Aber es wird weiter gearbeitet, geforscht, publiziert. In der russischen Provinz werden Studenten den Sammelband lesen, für den Alexej nun so verzweifelt einen deutschen Autor zu gewinnen sucht. Endlich legt er den Hörer auf und wedelt mit der Hand. „Ach, was soll s! Ich kann doch selber was schreiben! Trinken wir doch lieber Tee!“


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