Polen

Der Pleite-Virus geht um

Anna Sobol ist nervös. „Die Chancen, an unser Geld zu kommen, sind leider nur gering“, sagt sie. „Unsere Forderungen belaufen sich auf 230.000 Złoty (55.000 Euro), das ist für uns eine hohe Summe“, unterstreicht die Managerin. Sobol ist die Vorstandsvorsitzende des Baudienstleisters Resbud aus der südostpolnische Stadt Rzeszów – einem Unternehmen, das an der Warschauer Börse notiert ist und nun vor Problemen steht.

Resbud gehört zu den zahlreichen polnischen Subfirmen, die den Bau des Warschauer Nationalstadions gestemmt haben. Mit einer rotweißen Fassade in den polnischen Nationalfarben und einer Investitionssumme von 1,9 Milliarden Złoty (460 Millionen Euro) gehörte es zwar zu den Prestigeobjekte bei der Bewerbung der UEFA, hat aber denjenigen, die an diesem Projekt beteiligt waren, letztlich nur Ärger gebracht.

Viele Kalkulationen gingen nicht auf

Der Dienstleister und 49 weitere Subunternehmen streiten sich derzeit vor Gericht mit dem Generalunternehmen – einem Konsortium, zu dem auch der ALPINE-Konzern gehört. Wie die konservative polnische Tageszeitung „Dziennik Gazeta Prawna“ vorrechnet, geht es um Zahlungen von insgesamt 94 Millionen Złoty (22,6 Millionen Euro), die das Konsortium aus der Sicht der Subfirmen nicht geleistet hat. Bis Jahresende sollen die Gerichte darüber entschieden haben. Die rechtliche Situation ist kompliziert, weil die beiden polnischen Partner von ALPINE, Hydrobudowa Polska und PBG, inzwischen Insolvenz angemeldet haben. Sie gehören zu den größten polnischen Baukonzernen.

Diese Streitigkeiten um das Nationalstadion spiegeln einen Trend in Polen wider, der die gesamte Bauindustrie betrifft und der auch die Wirtschaft massiv belastet. Eigentlich sollten die Investitionen in die Stadien und in Infrastruktur, die Polen im Zusammenhang mit Fußball-EM vorangetrieben hat, dem Land einen massiven Schub bringen. Und dafür hatte sich Warschau auch nicht lumpen lassen und insgesamt die gigantische Summe von umgerechnet 24 Milliarden Euro veranschlagt.

Hunderttausende Arbeitsplätze sind bedroht

Doch nun, knapp drei Monate nach dem Abpfiff des Endspiels, ist das Gegenteil der Fall: Die Baufirmen und der polnische Staat, die eigentlich gemeinsam für die Projekte an einem Strang ziehen sollten, streiten sich massiv ums Geld. Der plötzliche Anstieg der Materialpreise hat für viele die ursprüngliche Kalkulation über den Haufen geworfen. Manche kleine Firmen haben auch bei den Ausschreibungen zu niedrige und für sie unrentable Preise angeboten, nur um an die angeblich lukrativen EM-Aufträge zu kommen. Viele mussten deshalb Insolvenz anmelden. „Für ALPINE bedeutete die EM Bauaufträge für neue Stadien und Straßen“, sagt Johannes Gfrerer, der Sprecher des Unternehmens, auf Anfrage. Nach der EURO sei bei den Bauaktivitäten ein Rückgang wahrnehmbar, gab auch er zu.

Dies spiegelt sich auch in den aktuellen Zahlen wider: Nach Aussagen des statistischen Hauptamtes GUS ist im September das allgemeine Klima im Bauwesen negativ und noch pessimistischer als im Vormonat. Es herrscht die schlechteste Stimmung in einem September seit zwölf Jahren vor. Die Onlineausgabe des einheimischen Fachmagazins für die Industrie „Nowy Przemysł“ befürchtet, dass insgesamt mehrere hunderttausend Arbeitsplätze in der Branche und bei den Zulieferern bedroht sein könnten.

„Die Lage ist wirklich sehr schlecht“, bestätigt auch Sobol, die Chefin von Resbud. „Die Zahl der Insolvenzen dürfte weiter steigen,“ glaubt sie und zieht für ihr Unternehmen radikale Konsequenzen. „Wir ziehen uns völlig aus dem Baugeschäft zurück und werden uns am Energiemarkt engagieren – und zwar bei der Grünen Energie“, kündigte die Managerin einen Strategiewechsel an.

Der Staat greift den Firmen unter die Arme

Immerhin versucht der polnische Staat, zu helfen, und greift beispielsweise den Subfirmen unter die Arme, die sich beim Nationalstadion engagiert haben. Rund 30 Unternehmen haben bisher ihr Geld, das sie vom Konsortium fordern, aus der Staatskasse erhalten. Sportministerin Joanna Mucha lässt dies aber so nicht stehen. Und fordert diese Mittel auf dem gerichtlichen Wege von ALPINE und den anderen Konsortiumsmitgliedern ein.

Doch das ist noch nicht alles. Polen macht das Konsortium unter anderen auch dafür verantwortlich, dass das Stadion nicht wie ursprünglich geplant eröffnet wurde. Dafür verlangt das Land insgesamt die Zahlung einer Vertragsstrafe von 308 Millionen Złoty (rund 75 Millionen Euro). Dies wäre für den Konzern ein empfindlicher Betrag, wenn man bedenkt, dass dies knapp zwei Prozent der jährlichen Bauleistung von ALPINE sind.

Dieser Streit ist emotional aufgeheizt, weil es um die Verzögerung erhebliche innenpolitische Auseinandersetzungen gegeben hat. Da das Eröffnungsspiel nicht wie geplant stattfinden konnte, organisierten die Fans eine Demonstration gegen die verantwortliche Sportministerin Mucha. Sämtliche Medien hatten dies zum Anlass genommen, um ganze Kübel an Hohn und Spott über die Politikerin auszuschütten, die im Land nicht sonderlich beliebt ist.

Die Bauwirtschaft könnte die Gesamtwirtschaft anstecken

Nach Informationen der „Dziennik Gazeta Prawna“ hält ALPINE hingegen den Polen vor, dass Änderungen, die während des Projektes aufgetreten seien, die ursprünglichen Kosten bedeutend erhöht hätten. Das Blatt berichtet von 300 Millionen Złoty (73 Millionen Euro).

„Den aus unserer Sicht rechtswidrigen Versuch der Stadionbetreibergesellschaft NCS, dem Auftraggeber, auf Gelder unserer Bankgarantie zuzugreifen, hat ein polnisches Gericht bereits gestoppt“, erklärt ALPINE-Sprecher Gfrerer. Sein Unternehmen vertraut seinen Aussagen zufolge auf die polnische Justiz und geht davon aus, dass von ihm erbrachte Leistungen vom Auftraggeber auch zur Gänze abgegolten werden.

Die größte Gefahr bei diesen Streitigkeiten ist allerdings eine andere: Die Baubranche, die einen Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von acht Prozent hat, könnte auch die gesamte Wirtschaft anstecken: Zunächst gehen hier die Subunternehmen pleite. Und auch die Banken, die ihnen mit ihren Krediten die Geschäfte finanziert haben, erhalten ihr Geld nicht wieder und müssen an ihre Reserven ran. Damit können sie auch anderen Industrien keine Mittel mehr zur Verfügung stellen, so dass sich das Pleite-Virus der Bauindustrie immer mehr auf die gesamte Ökonomie ausweitet.

Schon im zweiten Quartal ist die Wirtschaft Polens ins Stocken gekommen. Mit 2,4 Prozent hat das Wachstum die Prognosen der einheimischen Ökonomen weit verfehlt. Möglicherweise ist es bereits bald vorbei mit dem Wirtschaftswunderland Polen, über das die internationale Presse in den vergangenen Jahren so überschwänglich berichtet hatte.


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