Estland

Kostenlos mit Bus und Bahn

Seit Januar 2013 läuft in der estnischen Hauptstadt Tallinn ein für europäische Großstädte bislang beispielloses Experiment: Fahrten in Bussen und Straßenbahnen sind kostenlos. Kostenlos zumindest für registrierte Einwohner Tallinns – Gäste der alten Hansestadt, die in Deutschland vielen auch noch als Reval bekannt ist, müssen für eine Einzelfahrt weiterhin mindestens 1,10 Euro zahlen.


Sinkende Qualität befürchtet

In Tallinn war das Vorhaben zunächst auf große Skepsis gestoßen. Viele Tallinner hatten „Sowjetnostalgie“ hinter dem Vorhaben gewittert und sinkende Qualität beim Nahverkehr befürchtet, wenn die Einnahmen aus dem Fahrscheinverkauf wegfallen. Dass Tallinn den ÖPNV nicht gleich komplett kostenlos anbietet, hat nun auch finanzielle Gründe. Zwar kommt das vielbeachtete Experiment Tallinn in jedem Fall teuer zu stehen: Dem kürzlich verabschiedeten Haushaltsplan für 2013 rechnet die Stadt mit Mindereinnahmen in Höhe von 12 Millionen Euro, was immerhin rund 2,5 Prozent des Gesamthaushalts ausmacht. Doch zumindest einen Teil dieser Summe machen zusätzliche Steuereinnahmen wieder wett, die die Stadt von Bürgern erhält, die zwar faktisch in Tallinn wohnen, sich dort bisher aber noch nicht registriert hatten. Sie haben mit dem kostenlosen Nahverkehr nun einen finanziellen Anreiz, sich in Tallinn anzumelden.


Jeder muss sich registrieren

Die offizielle Einwohnerzahl Tallinns stieg in den fünf Monaten bis Anfang Dezember um 2.400 auf nunmehr 418.582. Allein hierdurch könnten Tallinn nach Schätzungen der Tageszeitung Eesti Päevaleht zusätzliche Steuereinnahmen in Höhe von rund 2,8 Millionen Euro winken – beinahe ein Viertel der entgangenen Einnahmen aus dem Fahrkartenverkauf. Und für Dezember und Januar werden weitere Neuanmeldungen erwartet.

Künftig braucht jeder Fahrgast eine elektronische Fahrkarte: Auch, wer kostenlos fahren will, muss seine elektronische Fahrkarte „personalisieren“, indem er sie mit der Identifikationsnummer verknüpft, die jedem Einwohner Estlands zugeteilt wird. Maris Juha von der estnischen Datenschutzinspektion kritisierte in der Tageszeitung Postimees, der Schutz persönlicher Daten sei so nicht sichergestellt, da auch IT-Firmen, Fahrkartenverkäufer, Kontrolleure und andere Zugriff auf die so gespeicherten Fahrgastinformationen hätten.


Besonders Rentner profitieren

Bis Mitte Dezember waren rund 100.000 der neuen elektronischen Fahrkarten zum Stückpreis von zwei Euro verkauft. Besonders Rentner standen für den neuen Fahrausweis bei Minustemperaturen Schlange vor Postämtern. Eine der neuen Besitzerinnen der elektronischen Fahrkarte ist Jekaterina. „Ich wohne zwar nicht in Tallinn, aber 74-Jährige bekommen die Karte kostenlos“, erzählte sie der Tageszeitung Eesti Päevaleht. „Ich bin zum Postamt in der Innenstadt gegangen um Postkarten zu kaufen und dachte mir, zum Teufel nochmal, dann nehme ich die Fahrkarte eben auch mit.“ Und dann scherzte sie noch: „Man hat mich bedroht.“ Denn ab dem 1. Januar wäre Jekaterina, die als Rentnerin auch bisher schon kostenlos fahren durfte, ohne elektronische Karte offiziell eine Schwarzfahrerin.


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