Georgien

Wo Musik wie Atmen ist

Um sieben Uhr morgens schallen im Konservatorium in Tiflis schon Klavier- und Geigenmelodien durch die Gänge. Zwei Stunden vor Unterrichtsbeginn fangen die Schüler an zu üben. Auch Tamta Usenaschwili sitzt bereits an ihrer Harfe. Die zierliche 14-Jährige spielt einen Auszug aus Smetanas „Moldau“. Die Harfe sei schon immer ihr Traum gewesen, erzählt die Schülerin. Weil sie kein eigenes Instrument besitzt, kommt sie schon früh morgens ins Konservatorium.

Kein Land bringt so viele Musiker hervor wie Georgien

Tamta Usenaschwili ist keine Ausnahmeerscheinung. Kaum ein Land bringt gemessen an seiner Einwohnerzahl von nur vier Millionen so viele professionelle Musiker hervor wie Georgien. Neben Popstars wie Katie Melua verzaubert derzeit vor allem die 25-jährige Pianistin Khatia Buniatishvili das Publikum weltweit.

„Musik ist für uns so grundlegend wie das Atmen“, erklärt die georgische Pianistin und ehemalige Rektorin des Tifliser Konservatoriums Manana Doidschaschwili, die dort immer noch unterrichtet. „Die Musik ist Bestandteil unseres Lebens, sie begleitet uns von der Geburt bis zum Tod.“

Musik liegt überall in der Luft

Die Musik liegt in Georgien buchstäblich in der Luft – nicht nur am Konservatorium. Im Familien- und Freundeskreis, in der Altstadt von Tiflis, den dunklen Kirchen oder bei Wanderungen in den Bergen: Überall und zu jeder Gelegenheit wird gesungen, und zwar gleich mehrstimmig.

„Was die Georgier singen, ist wichtiger als alle Neuentdeckungen der modernen Musik. Es ist unvergleichlich und einfach. Ich habe nie etwas Besseres gehört“, sagte beispielsweise der Komponist Igor Strawinsky über die mehrstimmigen Choräle, die weder in Dur noch in Moll erklingen. Jede Stimme ist völlig eigenständig. Die Skala der georgischen Polyphonie wird von nur drei Akkorden gebildet. Und in jeder Region sind die Gesänge etwas anders.

Die Gesänge gehören zur Identität

Trotz seines modernen Klanges ist der georgische Chorgesang uralt. Bereits im ersten Jahrhundert vor Christus wurde über ihn berichtet, die Mehrheit der polyphonen Lieder stammt aus dem Mittelalter. Die Gesänge gehören bis heute zur Identität Georgier. Deswegen sind sie heute noch so lebendig wie vor tausend Jahren. Gerade in der wechselnden Geschichte des Landes hielten sie die Nation zusammen – bis heute.

So wurde das beliebte Lied „Du bist eine Weinrebe“ der Legende nach von König David dem Erbauer persönlich komponiert, der im 12. Jahrhundert die zersplitterten georgischen Fürstentümer vereinigte. Die Flüchtlinge, die 2008 im Krieg zwischen Russland und Georgien ihre Heimat Abchasien verloren hatten, gründeten im Moskauer Exil als erstes einen Workshop für polyphonen Gesang. An leeren Tischen sangen sie mit wehmütigen Stimmen „Chakrulo“, jenes Lied, das die UNESCO im Jahr 2001 auf die Liste der „immateriellen Meisterwerke der Menschheit“ setzte. 

Es geht nicht nur um Tradition, sondern auch um Erfolg

„Die musikalische Bildung beginnt bei uns sehr früh“, sagt der georgische Musikkritiker und Komponist Badri Bagrationi. Genauer gesagt bereits, wenn georgische Mütter ihren Kindern etwas vorsingen, oder auf Geburtstagen, Taufen oder einfach nur am gemeinsamen Esstisch die mehrstimmigen Choräle angestimmt werden. „Jedem Georgier schenkt Gott zur Geburt drei Stimmhöhen“, fügt Bagrationi hinzu.

Bei der Musik geht es in Georgien aber nicht nur um Tradition, sondern auch um den Erfolg. Schon in der Sowjetunion wurde der musikalischen Frühbildung große Bedeutung beigemessen. „Für die Familien war es schon damals Prestigesache, dass die Kinder nebenher die Musikschule besuchten und ein Instrument lernten“, erinnert sich Badri Bagrationi.

Das sowjetische Modell wird wiederbelebt

Als die Sowjetunion zusammenbrach, wurde Georgien von mehreren Bürgerkriegen zerrissen. Auf Zerfall und Chaos der wilden 1990-er Jahre folgte nach Michail Saakaschwilis friedlicher Rosenrevolution von 2003 die Zeit des Wiederaufbaus. Auch die flächendeckende Musikerziehung wurde nach und nach wiederbelebt, so Badri Bagrationi.

Vor drei Jahren knüpfte die Pianistin Manana Doidschaschwili an die sowjetische Tradition der zentralen Musikschulen an und gründete das Musikseminar am Tifliser Konservatorium. 120 Schüler erhalten hier ab der zweiten Klasse neben der regulären Schuldbildung eine professionelle musikalische Ausbildung.

Die meisten ihrer Schüler wollten die Musik zum Beruf machen, sagt Lali Sanikidze, Professorin für Klavier am Konservatorium, die auch an der Musikschule lehrt. „Wir legen Wert auf eine gute Allgemeinbildung. Ein schlecht gebildeter Mensch, egal wie viele Stunden er übt, ist auch an seinem Instrument nicht gut“, sagt Sanikidze. Eine ausgewogene Balance zu finden, sei jedoch nicht immer leicht. „Viele Schüler müssen an Wochenenden und Feiertagen nachholen, was sie in der Woche nicht geschafft haben“.

Eine „unglaubliche Ernsthaftigkeit”

Lali Sanikidzes Schülerin, die 11-jährige Kessa Gaganidze, sitzt am Klavier. Mit konzentriertem und ernsthaftem Gesichtsausdruck spielt das Mädchen die „Sarabande“ aus Bachs „Französischer Suite“. Kessa sei eine ihrer begabtesten Schülerinnen, die die Musik unglaublich ernst für ihr Alter nehme, berichtet Sanikidze. „Meine größere Schwester macht keine Musik und hat nachmittags viel mehr Zeit für sich und ihre Freundinnen als ich“, gibt die kleine Pianistin zu. Ist sie ab und zu neidisch? „Auf keinen Fall!“ protestiert das Mädchen. Denn wenn sie keinen Musikunterricht hätte, wüsste sie nicht, was sie mit ihrer Zeit anstellen sollte.

Paganini statt Freunde

Seit diesem Jahr gibt es am Seminar ein neues Programm. Mit Unterstützung des Kulturministeriums erhalten hochbegabte Kindern aus der Provinz kostenlosen Unterricht. Ein regulärer Platz am Konservatorium kostet 900 Euro im Jahr und ist bei einem Durchschnittsgehalt von 200 Euro pro Monat für viele Eltern unerschwinglich. Die 14-jährige Geigenspielerin Tamara Kosava aus dem westgeorgischen Kutaisi lebt seit einigen Monaten bei ihrer Gastfamilie in Tiflis. Natürlich vermisse sie ihre Heimatstadt und ihre Freunde, aber der Unterricht mache unglaublichen Spaß, gesteht das Mädchen. Sie träumt davon, endlich mit ihrem Lieblingskomponisten Paganini anzufangen.

Die Pianistin Manana Doidschaschwili ist stolz, dass ihre Studenten auf den besten Bühnen der Welt arbeiten. „Ich habe oft genug beobachtet, dass selbst durchschnittliche Studenten an westlichen Opernhäusern und Orchestern führende Positionen bekamen. Offenbar tragen unsere Tradition und Musikausbildung, bei der man von Kindheit an in musikalischen Begriffen denken lernt, Früchte“.


Weitere Artikel