Das neue Europa und die alte Sowjetunion – „Ein großer psychologischer Brei“
Vilnius (n-ost). „Es ist ein großer psychologischer Brei. Und wir kochen darin, ohne ihn wirklich zu verstehen“. Mit diesem Bild beschreibt die litauische Studentin Emilija Cernyseva die aktuellen Beziehungen zwischen ihrer Heimat und dem großen Nachbarland, Russland. Mit denen steht es zur Zeit nicht zum Besten. Gerade mal zwölf Jahre ist es her, dass die Litauer ihre gerade erst erlangte Unabhängigkeit erbittert und tapfer verteidigten. In rasendem Tempo hat sich das kleine baltische Land zum Wirtschaftsprimus der Region gemausert, in nur einem Jahr winkt der Beitritt zur EU, für viele Litauer die lang ersehnte Anerkennung als echte Europäer. Es scheint, dass man die Vergangenheit gar nicht schnell genug hinter sich lassen kann. Und zur Zeit sieht es sogar so aus, dass die Litauer lieber gestern als heute die Tür nach Osten hinter sich zuschlagen würden.
Das hört Emilija zumindest regelmäßig von ihren litauischen Großmutter. Zwar stimmt es die skeptisch, dass sie nun schon wieder irgendeiner neuen Union beitreten soll, aber sie gehören doch zu dem Teil der Bevölkerung, der auf jede nur erdenkliche Weise versucht, die Erinnerung an die Sowjetunion und damit an „die Russen“ zu vertreiben. Deshalb ist ihr auch Emilijas Nachname ein Dorn im Auge: Cernyseva, nach ihrem weißrussischen Vaters. „Willst du deinen Namen nicht litauisieren lassen?“ jammert sie von Zeit und Zeit. Dann hieße Emilija Cernysevaite. „Oder du heiratest!“ Das sagt ihre Großmutter nur, wenn sie mal wirklich verzweifelt ist. In dem Fall würde Emilijas Nachname eine neue Endung, die für verheiratete Frauen erhalten, und Cernyseviene lauten.
Emilija selbst sieht aber keinen Grund für die Namensänderung. Aber sie weiß, dass ihre Großmutter es gut meint. „Sie denkt, ich könnte vielleicht durch meinen Namen Nachteile haben.“ Die Studentin wird nachdenklicher, als sie das sagt. „Na ja, manchmal stimmt es vielleicht. Ich erinnere mich, das war noch im Germanistik-Studium. Da war ich in einem Kurs für litauische Sprachpflege. Und einmal wusste ich ein Wort nicht. Und da guckte der Dozent auf seine Liste und sagte: ‚Ach, Sie sind Russin?’ Ich weiß noch, ich habe mich furchtbar geschämt. Obwohl es doch damit gar nichts zu tun hatte.“
Und heiraten? Davon hält die 24-Jährige überhaupt nichts. Sie erinnert sich an eine Hochzeit in der Familie, die eben an den schwierigen litauisch-russischen Beziehungen zu Grunde gegangen ist. In den 70er Jahren hatte ihre litauische Tante einen Russen geheiratet. Die Familie war begeistert von dieser Liaison, freute sich über den Prestigegewinn. Von heute auf morgen folgte die Tante ihrem neuen Angetrauten nach Moskau. Es herrschte eitel Sonnenschein – bis das Ende der Sowjetunion heraufzog. Plötzlich war der russische Bräutigam der Familie nicht mehr recht. Sie setzte der Tante zu, bis diese entschloss, lieber „richtig litauisch“ zu sein, und sich scheiden ließ.
Gerade auch heute heißt „Litauisch sein“ für viele vor allem „nicht Russisch sein“. Identitätsfindung durch Verneinung der Vergangenheit, durch Abgrenzung vom Nachbarn, das ist momentan die Strategie. Noch scheint es zu früh für die Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte. Bezeichnenderweise heißt das Vilniusser KGB-Museum auch immer noch Genozid-Museum – und meint damit ausschließlich die Morde an und Deportationen der Litauer durch die Sowjets. Und selbst jetzt ist die Angst vor den russischen Panzern noch nicht komplett verschwunden. So tief sitzt der Schock von 1991, als die Sowjets am Vilniusser Fernsehturm 13 Zivilisten erschossen, die ihre neue errungene Unabhängigkeit verteidigten. „Ich finde es gut, dass wir der EU beitreten, weil uns dann jemand vor der russischen Arme beschützen kann“, so die Aussage einer Verkäuferin in einer litauischen Zeitung. Kein Wunder also, dass die Litauer begeistert ihre Fahnen schwenkten, als der U.S.-Präsident George Bush Vilnius im November einen Besuch abstattete. Wochenlang hatte man fieberhaft die Einladung in die NATO erwartet, und schließlich zapfte die Regierung sogar ihre Reservefonds an, um es dem amerikanischen Präsidenten an nichts mangeln zu lassen.
Die Begeisterung für Amerika ist ähnlich groß wie die für die EU. Das schlägt sich auch in den Sprachkenntnissen der jungen Litauer nieder. Russisch ist out, Englisch hat Hochkonjunktur. Oder zumindest andere westeuropäische Sprachen. Schon vor einigen Jahren hat Emilija ihr Germanistikstudium hinter sich gelassen. Jetzt studiert sie am Institut für Übersetzen und Dolmetschen der Universität Vilnius. Ihr Ziel: Dolmetscherin in Brüssel werden. Deshalb spielt es auch keine Rolle, dass sie fließend Russisch spricht, wie eigentlich alle Litauer, die noch einen Teil sowjetischer Schulausbildung genossen haben. Aus irgendeinem Grund gilt Russisch nicht wirklich als Fremdsprache, zumindest nicht als eine, mit der man Geld verdienen könnte. Diesen Pragmatismus teilen auch Emilijas Studienkollegen, die es ebenfalls vorgezogen haben, andere Sprachen zu studieren. „Mit Russisch kann man nicht arbeiten“, erklärt Asta Murauskaite, und ihr Kommilitone Mindaugas Krankelis pflichtet ihr bei: „Die Russen haben sowieso kein Geld, Dolmetscher zu bezahlen.“ So ist es, den jungen Litauern steht der Sinn nach belgischen Pralinen und Champagner. Kwas haben sie lange genug getrunken, die russischen Süßigkeiten verkleben einem doch nur die Zähne, und bei dem Brei, dem Russischen, weiß man ja doch nie, was drin ist.