Russland

Bestelltes Urteil gegen Kreml-Kritiker

Die Handschellen klicken noch im Gerichtssaal. Tränen fließen, die Menschen sinken fassungslos auf die Bänke. Alexej Nawalny, Russlands bekannteste Oppositionsstimme, schaut starr geradeaus, seine Frau Julia hinter ihm ist unbeweglich. „Fünf Jahre Haft, sofort anzutreten“, hatte der Richter vor Sekunden gesagt. Wieder landet ein Kreml-Kritiker hinter Gittern, wieder nach einem absurden Prozess.

Nawalny hatte es erwartet, hatte eine Tasche für die Strafkolonie gepackt und sie im Gerichtssaal abgestellt. Shampoo, Zahnbürste, Trainingsanzüge. Hat zynisch und ohne Unterlass getwittert aus dem Lenin-Bezirksgericht von Kirow.
Diese Provinzstadt 900 Kilometer östlich von Moskau war einst so etwas wie die Hoffnung der liberalen Opposition. Der liberale Provinzgouverneur von Kirow, Nikita Belych, holte den Juristen Nawalny 2009 als Berater zu sich. Doch schnell wurde diese politische Nische wieder geschlossen.

Nawalny war in den Augen der Mächtigen ein Krawallmacher. Der Moskauer Blogger deckte Korruption auf, stritt mit großen Staatsunternehmen vor Gericht, griff nach politischem Einfluss. Eine Gefahr für Putins autoritäres Regime. Also mussten wieder Gerichte ran. Menschenrechtler sprechen von einem bestellten Urteil.


Eine Bande Holzdiebe

10.000 Kubikmeter Holz habe Nawalny unterschlagen, so der Richter. Es sei erwiesen, dass der 37-Jährige als Anführer einer Bande den staatlichen Holzbetrieb „Kirowles“ um umgerechnet 400.000 Euro geprellt hat. Das Strafgesetzbuch sieht dafür Freiheitsentzug vor. Nawalnys Mitangeklagter, der Unternehmer Pjotr Ofizerow, wurde zu vier Jahren Haft verurteilt. Zudem müssen beide zusammen eine Strafe von umgerechnet 25.000 Euro zahlen.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Verteidiger kündigten an, in Revision zu gehen. Die Verurteilten bleiben vorerst in U-Haft, auf sie wartet die Strafkolonie. Nawalnys politische Karriere ist bereits zerstört: Erst am 17. Juli hatte die Wahlkommission Nawalny als Kandidaten für die Bürgermeisterwahl in Moskau registriert. Nach dem Urteil einen Tag später zog er seine Kandidatur zurück.

Das Verfahren gegen Nawalny war bereits drei Mal eingestellt und neu eröffnet worden. Die Beweislage reichte nie aus. Dann aber meldete sich der Leiter der kremlnahen Ermittlungsbehörde, sprach sich für das Neuaufrollen des Falles aus. Das Ende des Prozesses war vorhersehbar. Es nutzte wenig, dass selbst Zeugen der Anklage Nawalny entlasteten und den Prozess als „politische Auftragsarbeit“ bezeichneten.


Drei Minuten zur Beendigung einer politischen Karriere

Drei Minuten reichen aus, um Nawalnys politische Karriere zu beenden. Im Schuldspruch benutzt der Richter das Wort „organisiert“ und meint damit die Schaffung einer Bande, die der Moskauer für seine dunklen Machenschaften gebraucht habe. Damit ist Nawalny schuldig. Nach drei Stunden und 23 Minuten ist es auch mit seiner Freiheit dahin. Richter Sergej Blinow erhebt seine Stimme, schaut von seiner Mappe auf. Schon legen Gerichtsmitarbeiter Nawalny und Ofizerow Handschellen an.

Stundenlang hatte der 35-jährige Richter vorgelesen, als sei jemand hinter ihm her. Er verhaspelte sich, trank Wasser, manche Zuhörer schliefen ein. Es ist sein erster großer Fall. Noch bis Dezember 2012 war er an einem Bezirksgericht seines Heimatortes tätig, 4.500 Einwohner. 130 Fälle hatte Blinow in den vergangenen 2,5 Jahren gefällt und alle Angeklagten schuldig gesprochen. „Gründe für eine Bewährungsstrafe gibt es nicht“, sagt er auch zu Nawalny. Es ist ein Schuldspruch, der der Anklage in nahezu jedem Wort gleicht.

„Nun gut, Leute“, twittert Nawalny, Vater einer zwölfjährigen Tochter und eines fünfjährigen Sohnes, bevor er abgeführt wird. „Langweilt euch nicht ohne mich. Und das Wichtigste: Seid nicht untätig.“


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