Ukraine

Pokern bis zuletzt

„Die Uhr tickt“, erklärte kürzlich der schwedische Außenminister Carl Bildt stellvertretend für seine EU-Kollegen. Brüssel hat der Ukraine ein Ultimatum bis zu diesem Mittwoch gesetzt. Dann muss eine Lösung im Fall der inhaftierten Oppositionsführerin Julia Timoschenko gefunden sein. Und die kann nur lauten: Ausreise zur medizinischen Behandlung nach Deutschland. Noch am Mittwochabend wollen die EU-Emissäre Pat Cox und Alexander Kwasniewski aus Kiew nach Brüssel fliegen und dort Bericht erstatten, damit die Außenminister am kommenden Montag entscheiden können.

Wird die „Deadline“ überschritten, stirbt ein historisches Projekt. Der fertig ausgehandelte Vertrag über die Westanbindung der Ukraine, der Ende des Monats im litauischen Vilnius unterzeichnet werden soll, wäre hinfällig. Gescheitert wäre damit auch die EU-Strategie der Östlichen Partnerschaft. Die gesamte Geopolitik Osteuropas müsste neu bestimmt werden.


Pokern bis zuletzt

Dennoch pokern die verfeindeten Parteien in der Ukraine bis zuletzt um alles oder nichts. Seit Monaten streitet das Lager des autoritär regierenden Präsidenten Viktor Janukowitsch mit der Opposition um Timoschenko und Box-Weltmeister Vitali Klitschko über einen Kompromiss. Das entscheidende Wort hat Janukowitsch. Vordergründig muss zwar bis Mittwoch das Parlament in Kiew über die sogenannte Lex Timoschenko entscheiden. Doch die Macht, den Konflikt aufzulösen, hat faktisch allein der Staatschef.

Am Rande der Todeslinie treiben die Verhandlungen seltsame Blüten. Am Sonntag war Janukowitsch plötzlich verschwunden. Das russische Fernsehen meldete, ein angekündigter Besuch bei Kremlchef Wladimir Putin sei ausgefallen. Auch ukrainische Journalisten fanden keine Spur ihres Präsidenten. Dann gab Moskau Entwarnung. Janukowitsch habe Putin getroffen. Die Zusammenkunft sei so geheim gewesen, dass sie von den Medien unbemerkt geblieben sei. Angeblich habe sich Janukowitsch vor Spionage schützen wollen – durch wen auch immer.


Russland sitzt mit am Pokertisch

Damit war endgültig klar: Russland sitzt mit am Pokertisch. Putin will um nahezu jeden Preis die Westwendung der Ukraine verhindern und den „slawischen Bruderstaat“ in eine postsowjetische Eurasische Union locken. Dafür bietet er Janukowitsch billige Energie sowie moderne Raketen- und Flugzeugtechnik an. Im anderen Fall droht der Kreml mit einem Gas- und Handelskrieg. An der Grenze der beiden Länder bereitete der russische Zoll in den vergangenen Tagen neue Einfuhrregeln vor und zeigte damit gewissermaßen die Folterwerkzeuge.

Es ist offensichtlich, dass Janukowitsch im Wechselspiel zwischen der EU und Russland um Geld und wirtschaftliche Vorteile zockt. Aber der Präsident spielt vor allem aus innenpolitischen Gründen auf Zeit. Den Zwei-Meter-Mann treibt eine geradezu paranoide Angst vor Timoschenko um. 2011 ließ er sie deshalb aus politischen Motiven von einer willfährigen Justiz einsperren. Auch jetzt will Janukowitsch nur eine Lösung akzeptieren, die seine Erzrivalin über die Präsidentenwahl 2015 hinaus von der Politik in der Ukraine ausschließt. Die „Lex Timoschenko“ soll lediglich einen Hafturlaub vorsehen.

Das Gezocke und Gezerre im Vorfeld eines historischen Vertragsschlusses wirkt auf westliche Beobachter unwürdig. Andererseits hat die Weltmacht USA kürzlich im Poker um die Haushaltspolitik vorgeführt, dass politische Spiele auch andernorts gespielt werden. Sicher ist: Janukowitsch muss in den kommenden Stunden entscheiden, ob er die Westwendung der Ukraine will oder nicht. Die Uhr tickt.


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