Bulgarien

„Das Wichtigste ist das Wiederkehren“

ostpol: Auf den Fotos sieht man Schafhirten zwischen Plattenbausiedlungen, Bauern bei der Heuernte, Donaufischer, und Schrottsammler. Was ist das für ein Land, in dem „Orpheus begraben liegt“? 

Christian Muhrbeck: Für mich ist es zunächst einmal ein Land, das mich sehr herzlich und offen aufgenommen hat. Das erste Mal dort war ich mit einem Schulfreund zu DDR-Zeiten mit dem Fahrrad. Wir wollten sehen, wie weit uns das System fahren lässt. Bulgarien war für uns damals eine Art Schlaraffenland, wo Weintrauben und Melonen wuchsen. Später habe ich durch meine Frau eine sehr enge Verbindung zu dem Land entwickelt. Bei Ilija ist das umgekehrt: Er ist als Kind mit seinen Eltern aus Bulgarien geflohen und hat sich mit dem Land und seiner Geschichte viel kritischer auseinander gesetzt. Das Buch ist zwar eine Art Landesporträt, aber wir wollten nie sagen: So und so ist Bulgarien.


61

Du bist den Menschen, die du fotografiert hast, sehr nahe gekommen, hast sie in ihren Wohnungen besucht und im Alltag begleitet. Wie bist du mit ihnen in Kontakt getreten?

Die meisten Bilder sind aus einer Distanz von anderthalb bis zwei Metern aufgenommen. Das setzt viel Vertrauen voraus. Das Wichtigste ist das immer Wiederkehren, an vielen Orten war ich drei, vier Mal, bevor ich die Menschen überhaupt fotografiert habe. Mein Schwerpunkt bei der Recherche waren die Rhodopen. Ich bin von Dorf zu Dorf gefahren und habe geschaut, wo es besondere ethnische Zusammensetzungen und eine besondere Geschichte gibt. Oft bin ich auch durch Zufall in Situationen geplatzt und merkte, dass es sich lohnt, hier tiefer einzutauchen. Irgendwann sind die Leute mit ihren Geschichten sogar auf mich zugekommen. Man sät lange - und irgendwann erntet man.

Die Fotos zeigen nicht die in den Texten beschriebenen Personen. Dann ist da aber das Bild von dem Schrottsammler, der eine Hantel stemmt, und auf der nächsten Seite schreibt Trojanow über Zanko, den Müllsammler, der sich mit einer 25 Kilo-Schrotthantel fit hält. Zufall?

Die Geschichten basieren alle auf Recherchen, sind aber von Ilija mehr oder weniger literarisch ausgearbeitet worden. Es gibt Erzählungen und Fotos, die 1:1 zusammengehören, manche Orte haben wir gemeinsam besucht. Manchmal haben aber auch Bilder aus meinem Grundstock die Stimmung in Ilijas Geschichten so gut wiedergegeben, dass wir sie kombiniert haben. Wir wollten weg von der reinen Reportage-Ebene, wir wollten die Freiheit haben, Bilder und Geschichten künstlerisch-literarisch miteinander zu verbinden.

Bulgarien ist seit 2007 EU-Mitglied. Wenn man sich die Fotos anschaut, hat man das Gefühl, dort sei die Zeit stehengeblieben und es habe sich seit hundert Jahren nichts verändert. Ist das so?

Die meisten Ausländer in Bulgarien bewegen sich zwischen zwei Polen: dem Schwarzen Meer und Sofia. Sie landen in Sofia und finden die Stadt europäisch, man kann super shoppen und Kaffeetrinken. Dann fahren sie über die neue Autobahn bis zur Schwarzmeerküste und machen All-inclusive-Urlaub. Manche behaupten, wir würden „Geschichten am Rande“ erzählen, aber das, was die Touristen erleben, sind die eigentlichen Randgeschichten. Die Mehrheit der Bulgaren schlägt sich irgendwie durch, in den ländlichen Gegenden ist die Zeit tatsächlich stehengeblieben, die Armut ist seit der Wende sogar größer geworden. Selbstversorgung ist für manche die einzige Überlebensmöglichkeit.

Oft bemühen sich Fotografen und Autoren entgegen der Klischees ja gerade, das moderne Gesicht Osteuropas zu zeigen...

Wir haben versucht, das Buch ganz aus dem zeitlichen Kontext zu nehmen, aber es polarisiert, besonders in Bulgarien selbst. Wenn zum Beispiel ein Sofioter meine Bilder sieht, fällt er mir entweder um den Hals und sagt: Du zeigst uns ein Bulgarien, das wir selber noch gar nicht kennen. Andere sagen: Das ist nicht das richtige Bulgarien, sondern der Blick des Ausländers und letztendlich zeigt ihr doch wieder nur die Armut der Menschen. Aber wenn man genau hinschaut, sieht man in dem Buch viele Menschen lachen. Es war mir wichtig zu zeigen, dass trotz Armut die Menschen nicht jeden Tag verbittert sind. Gerade diese Freundlichkeit und Offenheit sind eine Besonderheit, die man meiner Meinung nach in Westeuropa in der Form nur selten findet. 

Ilija Trojanow, Christian Muhrbeck
Wo Orpheus begraben liegt
Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-24341-5
24,90 Euro


Weitere Artikel