Litauen

Mitten in Europa, nicht an der Peripherie

Klaipeda (n-ost). Litauen ist reif für die Europäische Union. Das zumindest entschied der Europäische Rat nach dem Abschluss der Beitrittsverhandlungen im Dezember 2002 in Kopenhagen. Für die Stadtverwaltung Klaipeda ist der baldige EU-Beitritt Anlass zu einer
„Europagesprächsreihe“ über Litauen in Europa, die der Öffentlichkeit das Thema Europäische Integration näher bringen soll. Zum Auftakt der Gesprächsreihe kamen jetzt Regierungsvertreter und Wissenschaftler aus Litauen, Polen und Deutschland in Klaipeda zusammen.

Der Titel der Diskussionsveranstaltung „Die EU: welche Zukunft hat der Nationalstaat?“ wurde ganz bewusst gewählt, denn das Gespräch fand am Vorabend des litauischen „Tages der Wiedererlangung der Unabhängigkeit“ statt: Am 11. März 1990 hatte die litauische sozialistische Sowjetrepublik seine Selbständigkeit von der UdSSR erklärt.
Litauen ist stolz auf diese Unabhängigkeit und fürchtet nichts mehr als einen erneuten Verlust seiner staatlichen Souveränität. Andererseits haben alle litauischen Regierungen seit 1990 die Aufnahme der Baltenrepublik in die Europäische Union zu ihrem ausdrücklichen Ziel erklärt. Ein Widerspruch? Mit der Podiumsdiskussion wollte die Stadtverwaltung Klaipeda eben dieser Frage nachgehen.
Was wird aus der Nationalstaatlichkeit, wenn Litauen Mitglied der Europäischen Union wird und damit zwangsläufig Entscheidungsstrukturen auf eine supranationale Ebene verlagern muss?

Klaipeda ist mit 210 000 Einwohnern die drittgrößte Stadt in Litauen und zählt heute zu den innovativsten Städten im Baltikum. Seine Lage an der Ostsee und die damit verbundenen guten Beziehungen zu den Ostsee-Anrainern haben schon vor dem EU-Beitritt zu engen Verflechtungen mit den europäischen Nachbarn geführt. Die Diskussionsveranstaltung zeige, so der
deutsche Botschafter in Litauen Alexander von Rom in seiner Begrüßungsansprache, dass Klaipeda die zukünftige EU-Mitgliedschaft sehr ernst nähme. Auch die litauischen Teilnehmer, Rytis Martikonis, Staatssekretär im litauischen Außenministerium für EU-Fragen und Vertreter Litauens im EU-Konvent zur Zukunft Europas und der Historiker Alvydas Nikzentaitis lobten Klaipedas Vorreiterrolle. Außer ihnen waren Ekkehard Brose, Leiter des Referats für die EU-Erweiterung im Auswärtigen Amt und der ehemalige polnische Botschafter in Berlin Jerzy Kranz nach Klaipeda gekommen. Ihr gemeinsames Bekenntnis:
Litauen hat keine Alternative zu einer Integration in die Europäischen Institutionen, auch wenn dieser Prozess manchmal schmerzhaft sein wird.
Im Mai soll die litauische Bevölkerung in einem Referendum entscheiden, ob das Land 2004 der Europäischen Union beitreten wird oder nicht. Eine
Zustimmung ist dabei gar nicht so sicher, denn anders als die Politik ist ein nicht geringer Teil der litauischen Bevölkerung eher europaskeptisch.
Ende Februar erst trat mit Rolandas Paksas ein Präsident sein Amt an, der seinen überraschenden Wahlsieg gegen den bisherigen Amtsinhaber Valdas Adamkus auch EU-kritischen Aussagen zu verdanken hat. Zwar ist Paksas inzwischen leiser geworden und hat in der Tradition seiner Vorgänger wiederholt betont, er unterstütze die Einbindung Litauens in den Europäischen Integrationsprozess. Doch die kritischen Stimmen, vor allem unter der Landbevölkerung, sind geblieben.
Die Europäische Union ist für viele Litauer noch immer ein unbekanntes Wesen. Mehr noch: Durch die Erfahrungen der Geschichte, die Litauen mehr als einmal zum Spielball fremder Mächte werden ließ, fürchtet manch einer eine erneute Vereinnahmung durch andere Staaten. „Ist die EU nicht eine neue Form des Imperialismus?“ war eine Frage aus dem Publikum.
Sicher nicht, betonten die Diskussionsteilnehmer. Aber, so Alvydas Nikzentaitis, natürlich gehe die Mitgliedschaft in der Europäischen Union auch einher mit einer Abgabe von Souveränität in bestimmten politischen und gesellschaftlichen Bereichen. Wichtig sei nur, diese Abgabe nicht als Verlust, sondern die verstärkte Zusammenarbeit als Gewinn für die beteiligten Staaten zu begreifen. Europa könne nur stark sein, wenn seine Regierungen bereit seien, ihre Politiken auch aufeinander abzustimmen.
„Aber können wir diesen Prozess auch wieder aufhalten, gibt es eine Möglichkeit des Austritts aus der Union?“, war eine weitere Frage. Natürlich könne jede völkerrechtliche Vereinbarung auch wieder aufgelöst
werden, sagte Rytis Martikonis, auch wenn das nicht explizit in den Beitrittsvereinbarungen festgehalten sein werde. Nur müsste sich das Land dann mit den Folgen der Isolierung auseinandersetzen.
Litauen steht mit seiner Diskussion über die Rolle des Nationalstaates nicht allein. Alle jetzigen und zukünftigen Mitgliedstaaten müssen sich momentan mit der Frage nach der weiteren Gestaltung der Europäischen Union auseinandersetzen. „Und das Schöne ist“, so Martikonis, „dass wir jetzt schon an dieser Zukunft mitarbeiten können.“ Deshalb ließe sich die
Gegenwart auch kaum mit der Vergangenheit vergleichen.
„Jetzt dürfen wir selbst entscheiden, ob wir der Familie der Europäischen Union beitreten wollen oder eben nicht, jeder einzelne in diesem Land.“
Am 6. Mai, knapp eine Woche vor dem Referendum, wird in Klaipeda das zweite „Europagespräch“ zum Thema „Gesellschaftliche Veränderungen und
Ideologienvielfalt unter dem Dach Europa“ stattfinden.


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