Unterwegs mit den Wahlbeobachtern der OSZE - Stimmen zählen im Sternenstädtchen
Stimmen zählen im Sternenstädtchen
Unterwegs mit den Wahlbeobachtern der OSZE
Dana Ritzmann
„Schon wieder eine Kuh“, sagt Seamus Martin und schaut amüsiert auf die vier Beine hinter der grünen Gardine, die der Wahlkabine als Vorhang dient. Wie oft hat er das nun schon gesehen. „In George Orwells ,Animal Farm’ sind vier Beine gut und zwei sind schlecht - hier ist es gerade umgekehrt“, erklärt der Ire. Die Kuh also symbolisiert die Verletzung des Wahlgeheimnisses. Doch damit nehmen es die russischen Wähler zumindest in Koroljow nicht so genau. Die wenigsten gehen wirklich in die Kabine, zumeist stehen sie irgendwo im Raum, studieren die Listen und machen ihre Kreuzchen. „Bevor wir vorhin hier reingekommen sind, standen noch viel mehr Leute an den Fensterbänken“, teilt Anja Stange ihrem Kollegen mit. Die Berlinerin bildet gemeinsam mit Seamus Martin ein Team, das im Rahmen der OSZE-Wahlbeobachtungsmission den Ablauf der Duma-Wahlen kontrolliert.
Sonntag morgen, 6.45 Uhr, Hotel Ukraina: Nach drei Tagen Vorbereitung und Schulung beginnt die eigentliche Aufgabe - gemeinsam mit dem Dolmetscher geht’s per Auto in die Moskauer Vorstadt Koroljow, ein Wissenschaftsstädtchen, bekannt für sein Raumfahrtinstitut. 7.30 Uhr: Im Wahllokal 955 beobachten die Deutsche und der Ire die Eröffnungszeremonie - die Wahlurnen werden versiegelt, die gestempelten Stimmzettel sortiert und schließlich die Türen aufgeschlossen. Der Andrang hält sich zu so früher Stunde allerdings in Grenzen. Insgesamt 126 419 Wahlberechtigte sind in der im Norden an Moskau angrenzenden Stadt aufgefordert, in einem der 70 Wahllokale ihre Stimme abzugeben. Auf zwei A3-großen Blättern sind die Einrichtungen mit Name und Adresse aufgelistet. „Wir wählen zufällig aus, welche Wahllokale wir besuchen“, sagt Stange, die zum ersten Mal für die OSZE eine Wahlbeobachtung macht. Im Dezember vergangenen Jahres war sie allerdings als Beobachterin für die Europäische Union in Madagaskar und in Berlin ist die Diplom-Romanistin für die Auswahl der deutschen OSZE-Wahlbeobachter zuständig. Damit sie Interessenten genau erklären kann, was sie erwartet, versucht die 35-Jährige selbst regelmäßig an Wahlbeobachtungen teilzunehmen. Das Interesse an solch einer ehrenamtlichen Aufgabe sei groß, so Stange. Menschen aus allen Berufen und verschiedenen Alters würden sich beim Zentrum für internationale Friedenseinsätze (ZIF) melden, die Datenbank umfasse etwa 1200 potenzielle Wahlbeobachter. Von den anlässlich der Duma-Wahl angereisten 400 Kurzzeit-Beobachtern aus 42 Ländern kommen 40 aus Deutschland. Einer der acht Iren ist Stanges Teamkollege Martin. Die OSZE-Beobachter sind immer zu zweit unterwegs - jeder mit einer weißen Binde mit blauen Buchstaben überm Anorak und einer Mappe voller Fragebögen und Informationsmaterial unterm Arm. Bei der Ankunft in einem Wahllokal stellen sie immer die gleichen Fragen: Wie viele Mitglieder der Wahlkommission sind anwesend? Wie viele davon sind von der Verwaltung nominiert? Wie viele Wahlberechtigte gibt es insgesamt? Wie viele davon haben bereits ihre Stimme abgegeben? Dann beginnt die eigentliche Beobachtung - werden die Ausweispapiere kontrolliert, nutzen die Wähler die Kabinen, beraten sie sich mit anderen. Alles wird registriert - die Wahlbeobachter der politischen Parteien ebenso wie die Meinungsforscher am Ausgang - doch kommentiert wird nichts.
Erst am Montag nach der Wahl gibt die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein erstes offizielles Statement über die Parlamentswahl ab. „Die Duma-Wahlen am 7. Dezember haben in vielerlei Hinsicht nicht den OSZE-Standards entsprochen, so dass fraglich ist, ob Russland überhaupt gewillt ist, den europäischen Maßstäben für demokratische Wahlen gerecht zu werden“, so das ernüchternde Urteil von Bruce Gorge, Präsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE. Beanstandet wurde dabei hauptsächlich die Rolle der Medien. Doch es habe auch positive Aspekte gegeben. So sei die Stimmabgabe als solche professionell vorbereitet und durchgeführt worden. Davon, so Gorge, habe er sich selbst überzeugen können, als er wie 100 andere internationale Parlamentarier am Wahlsonntag in Moskau die Stimmabgabe beobachtet hat. Rita Süßmuth, Vorsitzende der Langzeitbeobachtungsmission der OSZE betonte, dass ihr besonders positiv aufgefallen sei, dass die Bürger sehr viel demokratischer seien als Russland als Ganzes.
Doch mangelt es noch immer an der Akzeptanz bestimmter Grundprinzipien demokratischer Wahlen, wie zum Beispiel der geheimen Abstimmung. Oft genug sehen das die Wahlbeobachter mit eigenen Augen. In Koroljow lädt man das OSZE-Team ein, an einer mobilen Wahl teilzunehmen. Durch den verschneiten Wald geht‘s mit dem Auto etwa fünf Feldwege weiter zur Engels-Straße. Vor der grünen Datscha auf der linken Seite hält der Mini-Konvoi. Die Babuschka wartet schon und bittet alle in ihre kleine Küche. Souverän macht sie dann ihre Kreuzchen - vor den Augen aller Anwesenden, insgesamt sechs. Ihr Sohn steht direkt hinter ihr und als die alte Frau bei der Parteinliste zögert, sagt der Mann von der Wahlkommission er solle ihr doch helfen. „Wozu?“, fragt die noch relativ rüstige Rentnerin entrüstet und ihr Sohn erklärt, dass man die politischen Ansichten nicht teile und er schon deshalb nicht helfen könne. Die Wahlbeobachter verbuchen das unter Erfahrung. Für solche Situationen sind die Fragebögen nicht gemacht.
Den Vorfall aus Wahllokal 963 gibt Seamus Martin per Handy an die Koordinatoren im Hotel Ukraina weiter: Ein Polizist hatte das OSZE-Team ziemlich aggressiv daran gehindert, einzutreten. Erst der Vorsitzende der Wahlkommission konnte die Situation entschärfen und nach einem vielsagenden Kopfnicken zog sich der Milizmann zurück. Meistens werde man jedoch sehr freundlich empfangen, so Martin, der zum ersten Mal offiziell Wahlbeobachter ist. Über die Präsidentschaftswahlen vor knapp vier Jahren hat der vor kurzem pensionierte Außenpolitik-Chef der „Irish Times“ als Journalist berichtet, ebenso wie 1993 und 1996, als er in Moskau Korrespondent war. Und während der 61-Jährige sonst immer das Große Ganze analysiert hat, schaut er jetzt ins Detail. Wie werden die Stimmen gezählt? Wird die per Gesetz festgelegte Reihenfolge der Abläufe eingehalten?
Doch im Wahllokal 929, das das OSZE-Team in Koroljow als das neunte und letzte seiner Tour gewählt hat, läuft alles reibungslos. Listen werden verglichen, überzählige Stimmzettel entwertet und Protokolle geheftet. Um kurz vor elf endlich wird die erste der drei Wahlurnen geöffnet. Die 13-köpfige Wahlkommission hat sich um das Tischkarree platziert und sortiert die einzelnen Stimmzettel nach Farben - weiß A4, weiß A3, blau und gelb. Erst nach Mitternacht werden schließlich die Stimmen ausgezählt – um drei Uhr nachts ist die Mission von Anja Stange und Seamus Martin beendet. Mit dem offiziellen Protokoll in der Hand geht‘s zurück ins Hotel Ukraina, wo die Fäden zusammenlaufen.
Ende
Dana Ritzmann