Lettland

Letten entdecken die KGB-Folterkeller

Durch die lettische Hauptstadt flanieren zurzeit Tausende von Touristen. Dieses Jahr ist Riga Kulturhauptstadt Europas, und als besondere Attraktion hat sich das im Mai eröffnete Geheimdienstmuseum entpuppt. In langen Schlangen stehen Besucher vor dem Tor und wollen sehen, worüber lange nur hinter vorgehaltener Hand geredet werden konnte. Zu Sowjetzeiten war hier das „Komitee für Staatssicherheit der Lettischen SSR“ untergebracht – der lettische KGB, im Volksmund „Tscheka“ genannt.

Juris Vinkelis geht einen Flur entlang und schaut hinter jede Tür. „Dort war mein Bett“, sagt er und deutet in einen leeren, fensterlosen Raum. „Daneben musste ich mich entkleiden. Und dort, am Ende des Flurs, wurden die Fingerabdrücke genommen.“ Vinkelis besichtigt die Zellen im Keller des Tscheka-Hauses. In den besonders gewaltreichen ersten Jahren der Sowjetherrschaft in Lettland, während der ersten Besatzungsperiode 1940/41 und erneut ab 1944, drängten sich in einer solchen Zelle teilweise mehr als ein Dutzend Eingekerkerte. Hier wurde gefoltert und gemordet.

Genutzt wurde der Tscheka-Keller aber während der gesamten Sowjetherrschaft. Niemand weiß genau, wie viele Menschen dem Geheimdienstgefängnis nicht mehr lebend entkamen. Juris Vinkelis war Anfang der 1980er Jahre für neun Monate hier eingesperrt. Heute kommt er zum zweiten Mal in seinem Leben in das Eckhaus unweit der Altstadt von Riga – diesmal ganz freiwillig. Die Gelegenheit zu nutzen und das Gebäude noch einmal zu besuchen war für ihn eine „moralische Verpflichtung“, wie er sagt. Er hat seine Kinder und andere Verwandte mitgenommen, um ihnen zu zeigen, was die Sowjetmacht war.


„Es war völlig sinnlos“, urteilt der ehemalige Häftling

Heute, sagt Vinkelis, verspüre er keinen Hass, keinen Ärger. Sein Urteil ist viel einfacher: „Es war völlig sinnlos.“ Er war 29 Jahre alt, ein junger Arzt, als er verhaftet wurde. „Und wofür? Weil ich Broschüren weitergegeben hatte! Das ist doch absurd. Dieser Staat hat sich damit selbst zerstört.“

Eigentlich hatten die Organisatoren damit gerechnet, dass vor allem ausländische Touristen das Museum sehen wollen. Doch gerade das Interesse des einheimischen Publikums hat sich als überraschend groß erwiesen. Auch Wochen nach der Eröffnung müssen Führungen auf Lettisch mehrere Tage im Voraus gebucht werden.

Die erste Frage vor allem junger Besucher sei oft: „Was war die Tscheka überhaupt?“, sagt Rihards Petersons, Historiker und einer der Ausstellungskuratoren. Dann erzähle er, dass sich in jedem Staat Behörden um die Sicherheit kümmern: „Wie das FBI in den USA. Doch die entscheidende Frage ist: Welche Interessen vertreten diese Institutionen? Die eines demokratischen Landes oder die eines totalitären Systems, einer Diktatur?“ Petersons widerspricht zugleich der oft geäußerten Ansicht, die Tscheka sei der Ursprung allen Übels im Land gewesen: „Das stimmt nicht. Die Tscheka war einfach Teil des Systems.“

Museumsbesucherin Ilga Strazdina, eine Exil-Lettin aus den USA, hat nach der Führung gerade wieder den Keller verlassen. „Es war sehr schwer für mich, hierher zu kommen. Einer meiner Verwandten wurde in dieses Haus entführt und erschossen“, erzählt sie. In ihrer Jugend hätten die Exil-Letten in den USA oft über die Tscheka und die Verschleppung von Letten nach Sibirien gesprochen: „Was ich hier sehe, bestätigt das, was mein Vater mir erzählt hat.“


Im Gebäude sieht fast alles noch aus wie zu Sowjetzeiten

Auch in anderen Stockwerken des Gebäudes ist fast alles noch wie während der Tscheka-Zeit. Nichts ist renoviert oder repariert, die Bodenfliesen, Tapeten, Tische und Karteikarten-Schränke sind noch immer dieselben. Das Haus war ursprünglich nicht für den Geheimdienst gebaut worden, sondern im Jahr 1912 als Mietshaus entstanden. Mit der Unabhängigkeit Lettlands 1991 zog die Polizei in das Gebäude ein. Seit 2008 ist der 8.000 Quadratmeter große Komplex ungenutzt – der Staat hatte jahrelang erfolglos versucht, einen Mieter zu finden. Niemand will hier Büros oder Wohnungen einrichten. Schuld daran sei aber nicht nur die schlechte Aura, sondern auch der Denkmalschutz, sagt ein Vertreter der staatlichen Gebäudeverwaltung.

Die derzeitige Ausstellung ist nur bis Oktober geplant. Was danach mit dem Gebäude geschehen soll, weiß niemand. Eine Dauerausstellung einzurichten würde viel Geld kosten, da sich das Haus in einem sehr schlechten Zustand befindet. Doch das Hauptproblem ist nicht das Geld: Die Letten haben noch keinen Weg gefunden, wie sie mit ihrer Sowjet-Vergangenheit umgehen sollen. Diese Geschichte sei in Lettland bislang nie richtig aufgearbeitet worden, sagt Gints Grube, der Leiter des Projekts: „Mit der Eröffnung des Hauses wollen wir eine breitere Diskussion über unsere Geschichte anstoßen.“


Die Agenten-Listen sind bis heute nicht öffentlich

Anders als die Stasi-Archive der DDR sind die Listen mit den Namen der KGB-Agenten in Lettland, die sogenannten „Säcke der Tscheka“, noch immer nicht für die Öffentlichkeit einsehbar. Janis Rozkalns, ein ehemaliger Dissident und Tscheka-Gefangener, ist allerdings dagegen, sie zu öffnen: „Vor allem deshalb, weil sie nur einen kleinen Teil der Namen der 20.000 lettischen KGB-Agenten enthalten.“ Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden viele der Namenslisten nach Moskau überführt. Dort sind sie bis heute für die lettischen Behörden unerreichbar.

Vor kurzem hat das lettische Parlament allerdings entschieden, dass die KGB-Listen nach sorgfältiger wissenschaftlicher Prüfung ab 2018 öffentlich zugänglich gemacht werden sollen. Aber auch dann bleibt die Frage, wie mit diesen Informationen umgegangen werden soll, ob die Täter bestraft werden sollen oder die Geschichte einfach abgehakt werden sollte.

Der ehemalige Häftling Janis Rozkalns bezweifelt, dass sich auf diesen Listen die wahren Schuldigen finden lassen. Zu viel sei bereits vertuscht und verfälscht worden. Auch Museumsbesucherin Dace Bormane plädiert dafür, einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen: „Alle wussten, wer dem KGB mitteilte, was wir sagten oder dachten. Wenn ich demjenigen heute auf der Straße begegne, grüße ich ihn einfach nicht.“


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