Karge Rationen und Schikane für den Dienst am Vaterland
Karge Rationen und Schikane für den Dienst am Vaterland
Human Rights Watch beklagt gravierende Misstände in russischen Militärbaracken
Von Stefan Bruder (st_bruder@yahoo.com; Tel.: 007 3812 30 74 22)
Moskau (n-ost) Menschenunwürdige Entbehrungen, verdorbene Essensrationen und Misshandlungen durch Vorgesetzte und Dienstältere – die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ lässt in einem neuen Bericht kein gutes Haar an den Zuständen in russischen Einheiten. Die Regierung weist die Schuld von sich.
Michail Kurbaskij, ein Rekrut aus dem Fernen Osten Russlands, starb den klassischen Hungertod. Der über 1,80 Meter große Soldat wog zuletzt gerade einmal 42 Kilogramm. Auch Wjatscheslaw Turow kostete der Dienst am Vaterland das Leben. Gerade einmal dreieinhalb Monate nach seiner Einberufung starb der Soldat an Unterernährung und den Folgen einer Lungenentzündung in einem Militärkrankenhaus in der sibirischen Stadt Nowokusnezk. In einem Brief an seine Eltern schrieb der 19-Jährige, dass er innerhalb weniger Wochen sieben Kilogramm abgenommen hatte. Eine spätere Obduktion machte die offensichtliche Unterernährung für seinen Tod mitverantwortlich.
Beide Todesfälle sind keine tragischen Einzelfälle, sie wiederholen sich immer wieder in den Kasernen zwischen Smolensk und Wladiwostok. Zu diesem Schluss kommt die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ in ihrem aktuellen Bericht über die alarmierenden Zustände in der russischen Armee. Der 40-seitige Report der New Yorker Organisation ist der bisher fundierteste Bericht seiner Art, in dem vor allem die Gesundheitsprobleme und die mangelhafte Ernährung russischer Wehrdienstleistenden angeprangert werden. Basierend auf Interviews mit mehr als 100 Rekruten aus 51 Militäreinheiten in 25 Regionen zieht „Human Rights Watch“ eine düstere Bilanz. „Der durchschnittliche russische Soldat ist krank und hungrig“, beklagte Rachel Denber, die Leiterin der Europa und Zentralasien-Abteilung von HRW. „Und trotzdem weigert sich die russische Regierung das Problem anzuerkennen, geschweige denn, es zu bekämpfen.“
Kalorien nur auf dem Papier
Dabei hat ein russischer Rekrut nach Vorgaben des Verteidigungsministeriums in einem akribisch erstellten Verpflegungsplan Anrecht auf 900 Gramm Gemüse, 750 Gramm Brot, 200 Gramm Fleisch, 120 Gramm Fisch, außerdem Milch, Eier und Fruchtsaft täglich. Doch die Realität sieht vielerorts ganz anders aus: Die durchschnittlichen, oftmals halb verdorbenen Rationen scheinen aus nicht viel mehr als Hirsebrei, einer wässeriger Suppe, Trockenfisch, Makkaroni, modrigem Kartoffelbrei und, wie es ein Soldat gegenüber „Human Rights Watch“ schilderte, aus Brotscheiben zu bestehen, „die so dünn sind, dass man durch sie hindurch sehen kann.“
„Wir betrachten es definitiv als eine Krise, ein sehr schwerwiegendes Menschenrechtsproblem“, konstatierte Anna Neistat, Vorsitzende des Moskauer HRW-Büros. „Es hat sowohl Auswirkungen auf die Gesundheit der Rekruten, als auch auf die Effektivität der Armee. Wir glauben nicht, dass kranke und hungrige Soldaten ihrem Land dienen können.“
Ein Schnupfen mit Folgen
Als Folge der schlechten Verpflegung werden viele Rekruten krank. Zwar handelt es sich oftmals um einfache Krankheiten, die leicht zu behandeln sind. Doch der schlechte Zugang zu Gesundheitseinrichtungen und die weit verbreitete Schikane durch Vorgesetzte und dienstältere Soldaten verschlimmern die Situation nur. Für viele junge Kameraden ist es an der Tagesordnung, dass sie ihre karge Mahlzeit innerhalb weniger Minuten hinunter schlingen müssen, bevor sie wieder hungernd ihren Dienst verrichten müssen. Kameraden fordern regelmäßig Geld, Alkohol und Zigaretten von den jungen Rekruten - manchmal ihre Essensrationen gleich dazu.
Zwar werden jedes Jahr ungefähr 400.000 junge Männer im Alter von 18 bis 27 Jahren für 24 Monate zum Dienst am Vaterland in die Reihen der Armee eingezogen. „Aber ständige Berichte über Misshandlungen, Unterernährung und die schlechte medizinische Versorgung sorgen für einen massiven Schwund an neuen Rekruten, besonders in den wohlhabenderen Gegenden Russlands“, so der Bericht. Gesundheitskommissionen, die beurteilen, ob ein Rekrut tauglich ist für den Dienst an der Waffe, weisen normalerweise mehr als 30 Prozent aller untersuchten Kandidaten als untauglich ab. Doch um die Einberufungsquoten zu erfüllen, werden viele dennoch als tauglich befunden.
Die russische Militärführung schweigt zu den Vorwürfen. Das Verteidigungsministerium in Moskau und die für das Militär zuständige medizinische Behörde verweigerten ein Gespräch mit der Organisation. In einer schriftlichen Stellungnahme werden Engpässe in der Versorgung als Einzelfälle abgetan, an denen korrupte Offiziere die Schuld hätten. „Human Rights Watch“ fordert eine Stellungnahme zu den Vorgängen und drängt die Regierung, internationale Versorgungsstandards zu gewährleisten und die Rekruten besser vor Misshandlungen durch Vorgesetzte und Dienstältere zu schützen.
Während internationaler Druck vielen jungen Soldaten noch das Leben retten kann, kommt er für Aleksej Andriuschenko zu spät. Genau drei Monate dauerte sein Martyrium, dann starb der 19-jährige frisch eingezogene Rekrut im Kamenka-Militärkrankenhaus im Gebiet St. Petersburg: Im Februar 2001 landete Andriuschenko zum zweiten Mal innerhalb von drei Monaten wegen einer Lungenentzündung auf der Krankenstation, wenige Tage später war er tot. Ein Militärgericht befand später, dass der junge Rekrut Selbstmord begangen hatte, nachdem ältere Rekruten ihn mehrfach schwer misshandelt hatten. Auch das ist kein Einzelfall.
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Stefan Bruder