Keine Almosen
Keine Almosen
Sozialpädagogin aus Heidelberg kümmert sich um Moskauer Straßenkinder
Von Dana Ritzmann
Moskau (n-ost) Sie lächelt, träumt von einer anderen Zeit. Die zerfurchte Wange ruht auf dem Fuchspelz auf ihren Schultern. Liebevoll streicht die rechte Hand über das weiche Fell. „Mit Brot?“– diese Worte holen sie zurück in die Realität. Sie nickt verstohlen und balanciert dann den Pappteller mit Kascha an den anderen vorbei in eine Ecke am Rande des Platzes. Langsam löffelt sie den Buchweizenbrei, als wäre es ein Festmahl.
Wahrscheinlich ist es für die ältere Frau die einzige warme Mahlzeit am Tag. Obdachlose und Invaliden, Straßenkinder und heimatlose Senioren. Manche kommen jeden Tag zur Mittagszeit hinter den Kursker Bahnhof in Moskau, andere sind zufällig da. Jetzt im Winter sind es oft bis zu 200 Menschen, die geduldig anstehen für eine Portion Nudeln oder Brei mit Brot und heißem Tee. Viele kommen einfach nur zum Essen, aber einige wollen auch reden, wie der alte Mann mit dem bunten Schal, der einst bei der Sowjetarmee in Rostock diente.
Iwan Walewskij kennt die Menschen und ihre Geschichten. Der Moskauer Student der Sozialarbeit ist zuständig für die Organisation der Suppenküche. Jeden Tag um kurz vor elf holt er gemeinsam mit dem Fahrer die beiden grünen Behälter mit Essen in der Kantine eines nahe liegenden Gerichtsgebäudes ab und fährt zur Syromjatnitscheskij Pereulok am Kursker Bahnhof.
Iwans Chefin heißt Dorothea Volkert. Um die Vergessenen aus der Anonymität ihres schmutzigen Daseins zu holen und ihnen zu helfen, darum geht es der Heidelberger Sozialpädagogin. Seit 1996 kommt sie regelmäßig nach Russland und während sie am Anfang bei anderen karitativen Einrichtungen mitgearbeitet hat, initiiert sie jetzt eigene Projekte. Ihre Hauptzielgruppe: Moskaus Straßenkinder. In dem ehemaligen Mathe- und Physiklehrer Maxim Jegorow hat die Heidelbergerin einen engagierten Mitstreiter gefunden. Gemeinsam gründeten sie „Phönix“ – eine Integrationseinrichtung für ehemalige obdachlose Kinder und Frauen. Die Suppenküche ist ein wichtiger Bestandteil des Projektes. Hier, am Kursker Bahnhof findet die erste Kontaktaufnahme statt. Dann kann es Schritt für Schritt weitergehen, im Optimalfall bis hin zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft.
Mit Mitteln der „Deutsch-Russischen Gesellschaft Kraichgau“, deren zweite Vorsitzende Volkert ist, wurde im November 2001 eine Doppelhaushälfte in der Kleinstadt Rogatschowo gekauft und renoviert. Wenig später zogen hier die ersten Kinder ein, und mittlerweile geht es fast wie in einer richtigen Familie zu. Die ehemaligen Obdachlosen Jelena und Nadja kümmern sich um den Haushalt, während Sascha, Sergej und die anderen zur Schule gehen. Nachmittags helfen sie beim Abwaschen oder im Garten. Außerdem haben die fünf- bis 15-Jährigen, von denen einige auf der Straße groß geworden sind und gar nichts anderes kennen, Privatunterricht und werden psychologisch betreut. „Die Kinder sollen an ein normales Leben gewöhnt werden“, sagt Jegorow, der fast täglich nach dem Rechten sieht, Tränen trocknet, Streithähne beschwichtigt und die Schuhgröße jedes einzelnen Kindes auswendig weiß. Hier auf dem Dorf, 80 Kilometer nördlich von Moskau erfahren Jana und Andrej zum ersten Mal echte Zuneigung und Wärme. Ganz bewusst bringt man sie aus der Großstadt weg, wo der Einzelne so leicht untergeht.
Iwan ist 14. Ein Teenager. Doch seine wasserblauen Augen schauen unsicher, selbst wenn er sich betont cool fürs Foto in Positur wirft. Er kommt aus der Gegend um Nischnij Nowgorod. Wie er hier gelandet ist, auf der Straße in Moskau? „Ach“, sagt er und schaut verlegen weg. Er sammelt Müll am Kursker Bahnhof, statt Biologie und Englisch zu lernen.
„Uns geht es nicht darum, Almosen in der Suppenküche zu verteilen, sondern so vielen Straßenkindern wie möglich eine Perspektive zu geben“, betont Dorothea Volkert. Der tägliche Treff bei Kascha und Tee diene dazu, Vertrauen aufzubauen. Mit Bananen und Bonbons allein ist das nicht getan, das wissen alle, die bei bitterer Kälte so lange aufschöpfen, bis die Behälter restlos leer gekratzt sind.
Weitere Informationen zu dem Hilfsprojekt unter http://phoenixmoscow.gmxhome.de/
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Dana Ritzmann