Ja zum Reformkurs in Kiew
Die Ukrainer haben Leidensfähigkeit bewiesen – nicht nur im Osten des Landes, wo Krieg herrscht. Die Halbinsel Krim ist annektiert. Die Währung Hrywnja ist seit Anfang des Jahres um 40 Prozent gefallen. Um Gas zu sparen, mussten die Kiewer zuletzt monatelang kalt duschen. Aber statt den Kurs des „Krisen-Premiers“ Arseni Jazenjuk an den Wahlurnen abzustrafen, haben die Ukrainer am Sonntag ein klares Ja zu Reformen ausgesprochen.
Die große Überraschung ist dabei die Partei „Volksfront“ des Premiers, die erst vor wenigen Wochen aus dem Boden gestampft wurde: Sie liegt laut Hochrechnungen mit dem erklärten Favoriten, dem Parteienbündnis „Block Poroschenko“, gleichauf.
Eine klare pro-europäische Koalition
Der erwartete Sieg für die Populisten blieb hingegen aus. Der „Radikale Partei“ des Populisten und „Polit-Clowns“ Oleh Ljaschko, der sich im Wahlkampf als Galionsfigur der Unzufriedenen inszeniert hatte, wurde eine Absage erteilt. Umfragen sahen ihn zuletzt auf Platz zwei. Hochrechnungen zufolge landet er aber nur auf Platz fünf.
In das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, wird somit eine klare pro-europäische Koalition einziehen. Als möglicher Koalitionspartner des „Block Poroschenko“ und der „Volksfront“ wird die Partei „Samopomitsch“ des Lemberger Bürgermeisters Andrij Sadowij gehandelt. Sadowij, der mit elf Prozent als geheimer Wahlsieger gilt, richtete seinen möglichen Partnern für eine Koalitionsarbeit gleich Bedingungen aus: „In Regierungsämter sollen nicht Freunde, Bekannte oder Kollegen gehievt werden, sondern die besten Spezialisten auf ihrem Gebiet“, so Sadowij in einem Interview. Eine versteckte Spitze gegen Poroschenko, dessen Sohn über ein Direktmandat in die Werchowna Rada einziehen wird.
Jazenjuk ist nicht der wahre Hardliner
Und was bedeutet diese Wahl für den Krieg im Osten des Landes? „Die Parteien, die für eine Verlängerung des Krieges bis zu einem siegreichen Ende eingetreten sind, haben klar verloren“, kommentiert der ukrainische Politologe Taras Beresowez. Zwar hat sich auch Jazenjuks Partei, in dessen Reihen neben dem Innenminister Arsen Awakow auch einige Militärs auf vorderen Listenplätzen kandidierten, für ein härteres Durchgreifen in der Ostukraine positioniert – wohl auch, um sich vom „Block Poroschenko“ abzugrenzen.
Als wahre Hardliner in Ostukraine-Fragen gelten aber die „Vaterlandspartei“ von Julia Timoschenko und die „Radikale Partei“ von Ljaschko, der zuletzt immer wieder vor der Kamera als Kämpfer an der Front mit Maschinengewehr posierte. „Seit dem Waffenstillstandsabkommen hat Ljaschko aber deutlich an Boden verloren“, kommentierte der Politberater Witalij Bala.
Neben dem Krieg im Osten wird vor allem die katastrophale Wirtschaftslage auf der Agenda der künftigen Regierung stehen. Vasily Astrov, Ukraine-Experte am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, dämpft allerdings die Erwartungen: „Ich glaube nicht, dass hier die Reformbereitschaft radikal steigen wird. Die tiefe Rezession spricht gegen eine ‚Schocktherapie‘, außerdem ist das Freihandelsabkommen mit der EU, das eine Reihe von Wirtschaftsreformen zum Gegenstand hat, mindestens bis Ende 2015 auf Eis gelegt worden“, so Astrov.
Gegen das Machtmonopol von Präsident Poroschenko
Wie die Koalition aussehen wird, bleibt weiter spannend: Über die Direktmandate könnte sich Poroschenko wieder einen Vorteil verschaffen. An Jazenjuk als nächstem Premier wird indes kein Weg vorbeiführen, sind sich Analysten einig. Zwar war zu erwarten, dass die Parteien des Präsidenten und des Premiers auch nach den Wahlen eng zusammenarbeiten würden. Mit dem Votum haben sich die Gewichte aber zugunsten Jazenjuks verschoben: Er könne jetzt die „Carte Blanche“ ausspielen, wie es ein Parteifreund gegenüber der Zeitung „Ukrainska Pravda“ ausdrückte, und wichtige Ministerämter fordern. „Der Platz des Premiers ist zu 100 Prozent für Jazenjuk reserviert“, so der ukrainische Politologe Taras Beresowez.
Zuvor war noch Wolodymyr Hrojsman, ein Poroschenko-Vertrauter und bislang Vize-Premier, als aussichtsreicher Kandidat für den Posten des Premiers gehandelt worden. Die Wähler hätten sich aber mit ihrem Votum gegen ein Machtmonopol um den Präsidenten Petro Poroschenko ausgesprochen, so der Experte Beresowez.
Pikant ist das vor dem Hintergrund, dass es zuletzt Verhandlungen zwischen Jazenjuk und Poroschenko gab, für die Wahlen gemeinsam auf einer Liste anzutreten. Als Poroschenko dem Premier zu wenig Listenplätze zugestanden hatte, hatte jener abgelehnt. Bei der Gründung der Partei hatten viele im Block Poroschenko gefürchtet, die Volksfront könnte gar unter fünf Prozent fallen – und somit als Koalitionspartner verloren gehen.