Slowjansk – nach dem Terror

Wenn Denis erzählt, wird der Terror wieder lebendig. Drei Matratzen türmten sich in der Ecke seines Büros. Der lange Schreibtisch war vor die Fensterfront geschoben, um den kleinen Raum zu verdunkeln. Überall Spuren der Sandsäcke, von den Barrikaden, Dreck. Am Boden Handtücher, mit zerfetzten Klebestreifen. „Am Anfang wusste ich nicht genau, was das sein soll“, erzählt der junge, schanke Mann mit dem Kurzhaarschnitt. „Dann habe ich mir die Handtücher genauer angesehen: Da waren Abdrücke von Gesichtern, von Speichel und Schmutz.“
Es lässt sich nur erahnen, was in Denis’ Büro in seiner Abwesenheit vor sich ging. Mindestens drei Menschen wurden hier gefangen genommen und gefoltert. Denis arbeitet bei der Stadtverwaltung von Slowjansk – jene Stadt, die für fast drei Monate die Festung der pro-russischen Separatisten war. Als Männer mit Maschinengewehren und Tarnanzügen die Stadtverwaltung stürmten, versteckte sich Denis zu Hause, dann floh er aus der Stadt, in ein nahe gelegenes Flüchtlingsheim. Als im Sommer die Befreiung von Slowjansk gemeldet wurde, knallten im Flüchtlingslager die Sektkorken.
Die Lenin-Statue ist noch da – mit gelb-blauem Schal
„Das war wie ein zweiter Geburtstag für mich“, sagt Denis. Im zugigen fünfstöckigen Gebäude der Stadtverwaltung wurden die Büros wieder bezogen, die Schreibtische an ihren Platz gestellt, die Sandsäcke weggeschafft. Die Lenin-Statue vor dem Gebäude trägt jetzt einen blau-gelben Schal. „Slowjansk gehört zur Ukraine!“ steht als Bildschirmhintergrund auf Denis’ Computer. „Slawa Ukraini – Ruhm der Ukraine!“ sagt er zur Begrüßung.
Doch so patriotisch-feierlich ist längst nicht jedem in Slowjansk zumute. Der Schrecken sitzt noch in jeder Ritze, in jedem Blick, an jeder Ecke. Wenn Sascha, ein Soldat Mitte Zwanzig, mit der ukrainischen Uniform durch die Stadt patrouilliert, erntet er feindselige Blicke: „Sehen Sie, wie die Leute uns anschauen? Sie hassen uns.“ An einer Schnapstheke kippen die Soldaten ein paar Wodka. Der Kellner ruft ihnen nach: „Wartet nur! Wir sehen uns bald wieder – in der Donezker Volksrepublik!“
Es ist unklar, wie viele noch mit den Separatisten sympathisieren
Darüber, wie viele Slowjansker noch mit den Separatisten sympathisieren, gibt es unterschiedliche Ansichten. „Früher haben 40 Prozent die Donezker Volksrepublik unterstützt“, sagt der interimistische Bürgermeister Oleg Sontow vom Parteienbündnis des Präsidenten Poroschenko. „Seit sie aber gesehen haben, was die Separatisten hier angerichtet haben, sehen viele das nüchterner.“ Heute würde nur noch jeder Fünfte dem Traum eines vereinten „Neurusslands“ nachhängen, schätzt Sontow.
Aleksej teilt die Einschätzung des Bürgermeisters nicht. Als sich die Lage in Slowjansk zuspitzte, ist er mit seiner Frau und seinen vier Kindern geflohen. Im August kehrte er wieder nach Slowjansk zurück. „Mein Sohn wird in der Schule verprügelt, weil die anderen Kinder wissen, dass er aus einer pro-ukrainischen Familie kommt“, sagt Aleksej. So richtig wohl fühlt sich Aleksej in Slowjansk nicht mehr. „Aber wir haben vier Kinder und kein Geld. Wo sollen wir hin?“
Wochen ohne Strom und Wasser
Slowjansk hat wie kaum eine andere Stadt unter dem Krieg in der Ostukraine gelitten. In der heißen Phase des Krieges war die Stadt wochenlang ohne Strom und ohne Wasser. 2.500 Häuser wurden offiziellen Angaben zufolge beschädigt – von zerborstenen Fenstern bis zur völligen Zerstörung. Im Juni wurde ein vierstöckiger Plattenbau von Raketenwerfern getroffen. Wie viele Menschen dabei gestorben sind, ist bis heute nicht geklärt. Die Einschläge zerfetzten die ganze Vorderseite des Wohnhauses, nur die hintere Wand steht noch. Im letzten Stock stehen Blumentöpfe auf einem Fenstersims – als hätte die Pflanzen erst gestern jemand gegossen.
Natalja ist der Schrecken noch ins Gesicht geschrieben. Vier Granaten haben Erdlöcher in den Spielplatz vor dem Kinderheim gegraben, in dem die Erzieherin seit 17 Jahren arbeitet. Die Granatsplitter haben die Fliesen und die Wände im Heim durchlöchert. Die 60 Kinder wurden noch rechtzeitig evakuiert, aber Natalja hat im Keller ausgeharrt – tagelang, bis die Waffen endlich schwiegen. Auf den Schrecken folgte die Wut: „Warum hilft uns der Staat nicht?“ Natalja deutet auf eine Seitenfront des Heimes, die völlig zerstört ist. „Das ist im Juli passiert – und nichts ist seither geschehen! Auf dem Amt sagen sie uns immer: Wir brauchen das Geld für den Krieg!“
Slowjansk ist heute eine geteilte Stadt
Für die zivilen Opfer machen sich die ukrainische Armee und die pro-russischen Separatisten dagegen gegenseitig verantwortlich. Dass vier Monate nach dem Ende des Krieges noch immer viele Bewohner auf Trümmern sitzen, schürt das Misstrauen gegen Kiew. Hilfsorganisationen und Freiwillige hätten beim Wiederaufbau geholfen – der Staat nicht, klagen die Bewohner.
Der Krieg hat tiefe Gräben zwischen die Menschen geschlagen. Zwar seien fast alle der rund 60.000 Flüchtlinge nach Slowjansk zurückgekehrt, sagt Bürgermeister Sontow – ob aus Russland oder der Ukraine. Geht es um die Bewertung des Geschehenen, leben sie allerdings in verschiedenen Welten. Die Stadtverwaltung hat Info-Broschüren gedruckt: „Die Ukraine liebt ihren Donbass, der Donbass liebt seine Ukraine.“ Für die Schule wurden Comics gestaltet, um zu erklären, was die Anti-Terror-Operation der ukrainischen Armee ist. In den Hauptrollen: Ein hinterlistiger Putin und eine beherzte Kämpferin der ukrainischen Armee.
An den Parlamentswahlen Ende Oktober haben sich weniger als 30 Prozent der Slowjansker beteiligt. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hatte zuvor noch die Nachbarstadt Kramatorsk besucht – als Bekenntnis zu den befreiten Gebieten.
Nachts, wenn Slowjansk schläft, durchschneiden noch Schüsse die Stille. Partisanen, die die ukrainischen Checkpoints angreifen, sagen die Einheimischen. Die Schüsse sind dumpf und fern. Dumpf und fern, wie die Hoffnung auf einen Frieden im Donbass.