Propaganda vom Sofa aus

Ganz Russland ist heute einträchtig unter dem Banner der Staatspropaganda vereint – zumindest scheint es so. Die Zustimmung für Präsident Putin liegt bei 84 Prozent. Die Gesellschaft hat begonnen, die Sprache der Feindschaft zu sprechen. Man muss nur auf die Straße treten, um sich davon zu überzeugen: „Junta“, „Karatel“ (die russische Bezeichnung für Angehörige eines Strafkommandos) und „Faschisten“ ist dort zu hören.
Die sozialen Netzwerke sind voll mit den Ergüssen des gemeinen Volkes: mit Witzen, Videoclips, „wahren Geschichten“ und Karikaturen – über die niederträchtige Ukraine, den hinterhältigen Westen und das tapfere Russland. Das schwarz-orangene Sankt-Georgs-Band, ursprünglich ein Zeichen des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg, wurde zu einem Symbol der pro-russischen Separatisten und des modernen russischen Patriotismus, seine Farben sieht man jetzt überall.
Jeder Russe weiß, dass er seiner Bürgerrechte beraubt ist
Doch man sollte sich nicht täuschen: Keiner wird aus freien Stücken zum Propagandisten. Vielmehr handelt es sich um eine infantile Manifestation der Loyalität zum Staat. Die Situation in der Ukraine gab dieser Manifestation lediglich einen Ort, eine Sprache und eine Form. Aber der Vorwand hätte auch ein anderer sein können.
Jeder Russe weiß heute, dass sein Dasein nur eines „auf Bewährung“ ist, dass er seiner Bürgerrechte beraubt ist. Man kann ihn auf der Polizeiwache verprügeln, die „Silowiki“, die Angehörigen der staatlichen Sicherheitsorgane, können ihm sein Unternehmen wegnehmen, ihn unter einer falschen Anschuldigung ins Gefängnis werfen. Er hängt in der Luft.
Das jüngste Beispiel der himmelschreienden Gesetzlosigkeit: Der Arzt des Moskauer Untersuchungsgefängnisses „Matrosskaja Tischina“ gab eine Pressekonferenz und erzählte, wie vorzüglich die medizinische Versorgung dort sei. Währenddessen starb im Untersuchungsgefängnis ein Häftling, der trotz einer ernsten Diagnose vor Gericht gebracht werden sollte, um seine Untersuchungshaft zu verlängern – sonst hätte man ihn entlassen müssen.
Man wird am besten „einer von ihnen“
Einer offiziellen Statistik zufolge enden in Russland Prozesse wegen Verbrechen gegen Staatsmacht-Vertreter 22 Mal seltener mit Freisprüchen als Prozesse gegen die Vertreter der Staatsmacht selbst. Dieses Verhältnis sagt viel aus.
Das Dilemma ist folgendes: Entweder versucht man, den Staat zum Besseren zu verändern, oder man wird selbst ein Teil des Staatsapparates und damit „einer von ihnen“. Man beweist dem Staat seine Loyalität, um nicht der staatlichen Tyrannei zum Opfer zu fallen – und vielleicht sogar, um selbst einer von jenen zu werden, die die Tyrannei ausüben. Dem Staat aus Selbstschutz seine Loyalität zu beweisen, ist die Lebensstrategie vieler russischer Bürger.
Es ist wichtig zu verstehen, dass die Beziehung zwischen Bürger und Staatsmacht in Russland für die Russen ein Trauma ist. Während Stalins Terrorherrschaft wurde in den 1930er-Jahren ein Loyalitätspakt zwischen der Gesellschaft und dem Staat gebrochen, der seit der Revolution von 1917 Bestand gehabt hatte. Von nun an galt: Du kannst deine Ergebenheit für die Sache der Partei beweisen, so viel zu willst, dennoch kann man dich jederzeit zum Feind erklären und erschießen lassen.
Ein Spiel ohne Regeln
In der späten UdSSR wurde der ursprüngliche Pakt wiederhergestellt: Alle wussten wieder, welche Grenzen man nicht überschreiten durfte, um ein achtbarer Staatsbürger zu sein, der vor staatlicher Verfolgung sicher war. Anfang der 1990-er Jahre wurde der Pakt jedoch erneut gebrochen: Der Staat zog sich aus dem Leben der Bürger zurück, hörte auf, ihnen Gehälter zu zahlen und sie vor Gangstern zu beschützen.
Danach wurde der Staat wieder stärker – und zum Vorteil eines bestimmten Personenkreises privatisiert. Macht wurde zur einzig wahren Ressource im Land, alle anderen Formen von Eigentum wurden unsicher: von Immobilien bis hin zu Unternehmen.
Wiederum war es ein Spiel ohne Regeln: Heute bist du der Präsident der größten Ölgesellschaft, und morgen wirst du unter fadenscheinigen Beschuldigungen verhaftet, wie es im Jahr 2003 mit Michail Chodorkowski geschehen ist, und 2014 mit dem Chef des russischen Mineralölkonzerns Bashneft, Wladimir Ewtuschenkow. Mit genau diesen Methoden erpresst in Russland jeder beliebige Streifenpolizist Geld von einem Kioskbesitzer.
Sehnsucht nach Patriotismus
In der russischen Gesellschaft sind in den vergangenen Jahren zwei Fragen aufgekommen, die sich teils überschneiden, teils aber auch widersprechen. Erstens der Wunsch danach, in den Kreis der „Unsrigen“ aufgenommen zu werden und damit vom Staat eine Garantie auf Unantastbarkeit zu bekommen. Zweitens die Sehnsucht nach Patriotismus, nach dem „wahren“ Staat, der im Interesse aller agiert, nach einem Führer, der sich so verhält, wie es sich für einen russischen Herrscher gehört: Er kümmert sich um das ganze Land und nicht nur um einen ihm nahestehenden Personenkreis.
In der Situation mit der Ukraine, der Besetzung der Krim und der Konfrontation mit dem Westen, als die Staatsmacht zum ersten Mal seit vielen Jahren die Unterstützung der Bevölkerung brauchte, sahen sehr viele ihre Chance gekommen.
Die Mehrheit spürte intuitiv eine Möglichkeit, den Stress einer Existenz ohne verbindliche Rechtsgrundlage loszuwerden und sich mit dem Staat zu solidarisieren, eine sichtbare Mehrheit zu bilden und sich in dieser Mehrheit zu verstecken – und die innere Aggression auf die Ukrainer umzuleiten. Heute kann sich jeder am Informationskrieg gegen die Ukraine beteiligen. Die Staatsbürger ergriff die Ekstase der Loyalität – weniger, weil sie die Ukrainer hassen, sondern vielmehr, weil es plötzlich einen neuen Weg gab, dem Staat zu zeigen: Ich bin einer von euch. Rührt mich nicht an!
Das „Volk“ kehrt zurück auf die Bühne
Eine andere, kleinere Gruppe, hauptsächlich aus Journalisten bestehend, spürte, dass Propaganda nun eine Sache von staatstragender Wichtigkeit ist, und folglich vorzügliche Aussichten auf eine Karriere beim Staat eröffnet.
Die dritte und kleinste Gruppe schließlich sah im Auftreten der „Volks“-Republiken in der Ostukraine, im „Volks“-Referendum auf der Krim eine Veränderung auf dem politischen Kräftefeld Russlands, nämlich die Rückkehr des „Volkes“ auf die historische Bühne.
Es ist das erste Mal in der russischen Geschichte, dass der Staat seine Bürger an das Allerheiligste heranlässt – an die Propaganda. In der Sowjetzeit wurden nicht genehmigte Ergebenheitsbekundungen unterbunden. Das Monopol auf Propaganda hatte der Staat. Alle „persönlichen Zeugnisse“, die abgelegt wurden, wurden redaktionell bearbeitet und auf Linie gebracht.
Jetzt sind Privatleute zur treibenden Kraft der Propaganda geworden und haben sie um all das bereichert, was der Propaganda der sowjetischen Kultur fehlte: um einen aufrichtigen Stil und eine authentische Rhetorik. Diese selbsternannten Propagandisten nennt man im russischen Internet scherzhaft „Sofa-Streitkräfte“.
Das ist ein sehr aufregendes Abenteuer für den russischen Menschen, dem es niemals zuvor erlaubt war, selbstständig und öffentlich über geopolitische Themen zu sprechen. Ein weiteres Moment der Solidarisierung mit dem Staat.