Russland

Religionsfreiheit mit Tücken-Vom Ural bis zum Pazifik kämpft ein Bischof um das Fortbestehen seiner Gemeinden

Religionsfreiheit mit Tücken
Vom Ural bis zum Pazifik kämpft ein Bischof um das Fortbestehen seiner Gemeinden


Von Stefan Bruder (st_bruder@yahoo.com; Tel.: 007 3812 30 74 22)

Zermürbende Registrierungsprobleme, schleichende Abwanderung und der alte Traum vom Leben an der Wolga – der lutherischen Gemeinde in Omsk bläst auch im Neuen Russland ein rauher Wind ins Gesicht.

Omsk (n-ost). Stürmisch pfeift der trockene Januarwind um das moderne evangelisch-lutherische Gotteshaus am Ufer des breiten Irtysch. Der träge Fluss ist schon seit Mitte November zugefroren. Mutige Autofahrer nutzen die natürliche Brücke aus Eis, um schneller ans andere Ufer zu gelangen. Zum sonntäglichen Gottesdienst hingegen machen sich in diesen Tagen immer weniger Besucher auf den Weg zu der roten Backsteinkirche. Vereiste Gehsteige und beißender Frost im zweistelligen Minusbereich zwingen viele alte Gemeindemitglieder in die geistige Hungerzeit. Doch mit Petrus Launen wissen sowohl die alten Lutheraner als auch ihr deutscher Bischof für den Ural, Sibirien und den Fernen Osten, Volker Sailer, gut zu leben. Irdische Probleme ganz anderer Art haben es weit mehr in sich.

Da ist zum Beispiel die Registrierung der landesweit wiederbelebten Gemeinden, für die ihre Kirchenvorsteher starke Nerven benötigen. Davon kann auch der 1997 von der Hannoverschen Landeskirche entsandte und in Russland ordinierte Bischof ein Lied singen. Schon viermal hat das vom Ural bis zum Pazifik zuständige evangelisch-lutherische Oberhaupt seine Omsker Gemeinde neu registrieren müssen. Und ständig denken sich die Behörden neue Gesetze aus, die eine erneute Eintragung erforderlich machen. „Der Staat verschärft die Religionsgesetze zugunsten der Orthodoxen Kirche. Alle anderen Glaubensgemeinschaften dagegen werden an die Wand gedrückt oder gar als Sekten bezeichnet“, klagt der 60-jährige Geistliche aus Württemberg.

Das Wichtigste aber ist, dass die Kirche lebt. Zwar haben 70 Jahre der kommunistischen Verfolgung ihren Tribut gefordert. Gänzlich untergegangen ist die lutherische Gemeinschaft in der flächenmäßig größten Eparchie der Welt aber nicht. Von den rund 700 offiziell registrierten Mitgliedern in der westsibirischen Industriemetropole ist allerdings weit über die Hälfte längst nach Deutschland ausgewandert. Verblieben sind rund 100 aktive Kirchgänger, die große Mehrheit davon ältere Frauen.

Wer sich zum Bleiben entschieden hat, dem bietet das 1993 von der Bundesrepublik und der Hannoverschen Landeskirche errichtete „Christuskirchen- und Begegnungszentrum“ ein neues, geistiges Zuhause. Seither teilt sich die Gemeinde zwar wieder ein Dach, nicht aber eine gemeinsame Sprache. „Es gibt nur einen ganz schmalen Generationsausschnitt, der Russisch und Deutsch so gut beherrscht, dass er ohne Schwierigkeiten von der einen in die andere Sprache wechseln kann“, beobachtet der Bischof.

Die Fleischtöpfe an der Wolga
Trotz des geistlichen Neuanfangs in Sibirien schielten viele Lutheraner weiter nach den „Fleischtöpfen an der Wolga“, kritisiert Sailer den allzu idealisierten Blick zurück zur alten Heimat. Das hindere seine Gemeinde, etwas Neues hier und jetzt aufzubauen. „Wir dürfen die junge Generation nicht mehr auf die alte Zeit verpflichten.“

Das haben viele Glaubensbrüder eingesehen – und sind deshalb gleich in die neue alte Heimat ausgewandert. Die große Ausreisewelle der Neunziger Jahre hat auch der hiesigen Gemeinde zugesetzt. „Seit ich hier bin, haben wir schon acht Mal unseren Chor gegründet. Kaum läuft er wieder, wandern erneut zwei Sänger aus, die die Stimmen tragen, und die Arbeit beginnt von vorn.“ Dafür ziehen viele Umsiedler aus den zentralasiatischen Nachbarrepubliken nach, so dass sich die Abwanderung zumindest teilweise ausgleicht. Manche entlegene Gemeinde stirbt dagegen ganz aus. „Viele Menschen verschweigen, dass sie die Koffer packen“, weiß Sailer aus Erfahrung. „Oftmals ist die Großmutter die treibende Kraft in einer Großfamilie und nimmt rund zwei Dutzend Angehörige mit nach Deutschland. Daran kann eine ganze Gemeinde hängen.“

Eine Reiseleiterin vom KGB
Die ersten Kontakte nach Osten knüpfte Sailer noch zu Sowjetzeiten. 1988 unternahm der damals in Großbettlingen, am Fuß der Schwäbischen Alb, tätige Pastor mit einer deutschen Reisegruppe des Missionsbundes „Licht im Osten“ eine Fahrt jenseits des Eisernen Vorhangs. Das Reiseziel war – aus Sicht der Partei – ein Besuch in der Höhle des Löwen, nämlich eine Erkundigungsfahrt zu den weit verstreuten östlichen Gemeinden. „Wir waren die erste Reisegruppe aus dem Westen, die sie besuchte, ganz offiziell und ohne Vorwand, eine Wirtschafts- oder Kulturdelegation zu sein“, erinnert er sich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten mutige Einzelpersonen lediglich ihre Taschen mit christlicher Literatur gefüllt und sich so auf ihre heikle Mission zu den isolierten Glaubensbrüdern aufgemacht. Jetzt erteilte der Kreml den Deutschen seinen politischen Segen – und schickte eine Offizierin des KGB als „Reiseleitung“.

Mit Gorbatschows Tauwetterpolitik durften sich zu diesem Zeitpunkt bereits in allen Sowjetrepubliken wieder offiziell Gemeinden bilden. „Das war die Zeit des Aufbruchs. Damals war vieles machbar, was heute nicht mehr möglich ist“, konstatiert der Bischof nachdenklich. „Die Zeit der kommunistischen Unterdrückung und der Christenverfolgung ist vorbei. Jetzt hat der Streit um die Vorherrschaft der Religionen begonnen, den in Russland die Orthodoxe Kirche für sich entschieden hat“, stellt Sailer die Ironie der Geschichte fest. Denn auch die Orthodoxe Kirche hatte, wie andere Glaubensgemeinschaften, unter den staatlichen Repressionen gelitten. Offiziell anerkannt werden heutzutage darüber hinaus nur noch der Islam und das Judentum.


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Stefan Bruder


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