Polen

Polen wird Einwanderungsland

Überall in Polen schließen Schulen, weil es nicht genügend Schüler gibt. Die Grundschule von Raszyn bei Warschau hingegen wächst: 950 Schüler lernen hier – viele von ihnen Kinder von Zuwanderern. Sie stammen hauptsächlich aus Vietnam, denn im Nachbarort Wolka Kosowska bietet ein riesiges vietnamesisch-chinesisches Handelszentrum Verdienstmöglichkeiten. Um die Kinder zu integrieren, hat die Schule zweisprachige Kulturassistenten eingestellt. Sie helfen denjenigen Kindern, die gerade erst in Polen angekommen sind und noch kein Wort Polnisch können.

An diesem Morgen sitzt die junge Kulturassistentin Hania an einem Tisch im Schulhort. Sie hat ein Buch aufgeschlagen, einige Kinder beugen sich interessiert darüber. „Koraly, Kolorowy“, spricht sie langsam vor. Die Buchstaben r und l sind für die Kinder schwierig auszusprechen. Die sechsjährige Diana stützt ihren Kopf auf die Hände und übt konzentriert die Laute. Wie die meisten vietnamesischen Kinder hat sie einen zweiten polnischen Namen bekommen. Die Eltern erwarten von den Kindern beste Schulleistungen – nicht selten werden sie in kurzer Zeit Klassenbeste.

Das EU-Land Polen steht bei immer mehr Einwanderern hoch im Kurs: Es bietet moderne Bildungseinrichtungen und sanierte Innenstädte. Zugleich sind die Lebenshaltungskosten vergleichsweise niedrig. Zwischen Anfang 2008 und Juni 2014 ist die Zahl der Menschen in Polen mit einer längerfristigen Aufenthaltsgenehmigung von 77.000 auf 121.000 angestiegen.


Flucht nach Polen

Einen sprunghaften Anstieg der Einwanderer gibt es aber erst seit einem halben Jahr, erklärt Izabela Szewczyk von der Ausländerbehörde in Warschau: „Seit Mai 2014 gilt ein neues Ausländergesetz, das die Einwanderung erleichtert“, sagt sie. Als zweiten Grund nennt sie die Situation in der Ukraine. Viele Ukrainer flüchten vor der hoffnungslosen wirtschaftlichen Lage und dem Bürgerkrieg nach Polen. Manche erhoffen sich auch nach dem Studium bessere Perspektiven in einem EU-Land. Etwa der Student der Robotik aus der Nähe von Kiew, der mit seiner Aktentasche etwas hilflos in dem vollen Eingangsbereich der Ausländerbehörde steht: „In Polen bekommt man nach dem Studium eine Arbeit“, sagt er. In der Ukraine habe er es schwer als Uniabsolvent in seinem Beruf zu arbeiten.

Nachdem sich der junge Mann eine Wartemarke gezogen hat, muss er sich in Geduld üben. Es kann bis zu zwei Tage dauern, bis man an die Reihe kommt. Obwohl es in der Gruppe der Ukrainer einen 100-prozentigen Anstieg von Anträgen auf Asyl oder Aufenthaltsgenehmigungen gegeben hat, wurde das Budget der Ausländerbehörde nicht aufgestockt.

Das erklärt womöglich die Schwerfälligkeit der Behörden, die die Ukrainerin Natalia Paschenko beklagt. Die 24-Jährige hat in Polen studiert und arbeitet inzwischen in einer internationalen Organisation, die ukrainischen Flüchtlingen hilft. „Diese Schwerfälligkeit diskriminiert Migranten“, sagt Paschenko. In vielen Fällen dauere es bis zu einem halben Jahr, bis die Betroffenen eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. In dieser Zeit dürfen sie nicht arbeiten oder das Land verlassen. 


Bürger zweiter Klasse

Aber auch mit gültigen Papieren fühlt sich Natalia oft wie eine Bürgerin zweiter Klasse. In der Tram wird sie schief angeguckt, wenn sie mit Freudinnen Ukrainisch spricht, im Internet zuweilen offen angegriffen: „Manche drohen, dass sie mich töten werden, oder schreiben, dass ich zurück in die Ukraine gehen soll oder den Polen auf der Tasche liege.“

Auch in Polen häufen sich die Vorfälle mit ausländerfeindlichem oder rassistischem Hintergrund – Schmierereien auf jüdischen Friedhöfen oder Überfälle auf Studenten aus Kamerun etwa. Das hat der Verein „Nigdy Więcej“ – zu Deutsch „Nie Wieder“ – in seinem „Braunbuch“ dokumentiert.

Tatsächlich aber ist Polen dringend auf Einwanderer angewiesen. 2013 ist die Zahl der im Ausland lebenden Polinnen und Polen auf über zwei Millionen angewachsen. Die meisten emigrierten nach Deutschland. Außerdem werden wie in Deutschland zu wenige Kinder geboren. Demographen schätzen deshalb, dass die polnische Bevölkerung unter dem Strich abnehmen wird – trotz der vielen Einwanderer.


Weitere Artikel