Polen

Die eigene Kultur auf die Probe stellen

Ich bin in Danzig geboren und aufgewachsen. Was das Deutsche ist, lernte ich aufgrund der Spuren, die die Deutschen hinterlassen hatten. Meine Eltern erzählten mir viele schreckliche Dinge über die Deutschen, aber die Spuren sagten mit etwas anderes. Es war der deutsche Geist, der in der Architektur und Kunst steckte, auf die ich als Kind aufmerksam wurde, was mich übrigens gar nicht daran hinderte, ein Pole zu sein.

Doch im Umgang mit den heutigen Deutschen spüre ich diesen Geist gar nicht mehr. Mein Vater hielt Deutschland für ein Land absoluter Pünktlichkeit, aber die deutschen Züge verspäten sich neuerdings ziemlich regelmäßig. Und was hat die sprichwörtliche deutsche Steifheit, Genauigkeit oder Ernsthaftigkeit mit den jungen Deutschen in T-Shirts zu tun, die mit ihren Kopfhörern auf den Ohren Skateboard fahren? Die Gerüchte über den deutschen Sinn für Ordnung und Sauberkeit, der an Obsession grenze, halte ich auch für etwas übertrieben – und neulich erklärte mir tatsächlich jemand in Frankfurt, es gebe eine gewisse Krise in dieser Hinsicht, die aus der Überflutung durch Ausländer resultiere.


Die deutsche Tradition der „Lesungen“

Ich selbst bin ein Verehrer der alten deutschen Kunst, aber es fällt mir immer schwerer, in der neuen deutschen Kultur etwas zu finden, was mich faszinieren würde. Grass? Herzog? Brandauer? Einverstanden. Aber was noch? So paradox es klingt: Manchmal habe ich den Eindruck, dass viel mehr vom deutschen Geist in den polnischen Westgebieten überdauert hat, wo es einfach nicht genug Geld gab, die einst deutschen Städte völlig umzugestalten, als in Westdeutschland, wo die Globalisierung seit Jahren ihr Werk tut. Von allem, was ich heute in Deutschland sehe, gefällt mir am besten das Verhältnis der Deutschen zu den Büchern, obwohl ich damit natürlich nur eine kleine Minderheit meine, die ich persönlich kennengelernt habe.


Veranstaltungshinweis

Stefan Chwin wird am 28. Juni im polnischen Thorn (Toruń) gemeinsam mit Marie-Luise Scherer der Samuel-Bogumil-Linde-Literaturpreis 2015 verliehen. Sein Buch „Ein deutsches Tagebuch“ erscheint am 29. Juni in der edition.fotoTAPETA.
Weitere Informationen finden Sie hier.


[…] Wunderbar ist auch der Anblick der Menschen in der Berliner U-Bahn: Jeder liest irgendetwas. Diese zauberhafte „Lesemanie“ der Deutschen erscheint mir besonders erhaltenswert. Ich hoffe, dass sie infolge der Amerikanisierung nicht verloren geht. Die Wesensart der heutigen Deutschen zu definieren, ist für mich genauso schwierig, wie das heutige „Polentum“ zu beschreiben, obwohl ich mich als Universitätsprofessor mit der polnischen Kultur des 20. Jahrhunderts befasse. In meiner Jugend galt es zum Beispiel als Regel, älteren Personen in der Straßenbahn oder im Zug seinen Platz zu überlassen, selbst wenn man eine gültige Platzkarte hatte.

Ich denke, Grundvoraussetzung für die Zuerkennung einer Staatsbürgerschaft sollte eine gute Kenntnis der Landessprache sein. Sehr viele Missgeschicke, die den Immigranten widerfahren, resultieren aus der Unkenntnis der Sprache. Das Gefühl, gesellschaftlich isoliert zu sein, nicht zu verstehen, was um einen geschieht, verfolgt oder marginalisiert zu werden.

Ich wäre aber nicht so sicher, ob man fordern sollte, dass die Immigranten gut die Kultur des Landes kennen, in dem sie sich niederlassen. Es ist natürlich sinnvoll zu wissen, welche Werte für Polen, Franzosen oder Deutsche besonders wichtig sind, um krasse Missverständnisse zu vermeiden. Müssen sie aber die deutsche Geschichte auswendig lernen? Den Kalender der französischen Feiertage genau kennen? Vor- und Nachnamen der polnischen Politiker und Schriftsteller? Man sollte hier mit viel Feingefühl vorgehen, damit diese Einweihung in die „Leitkultur“ für die „Fremden“ nicht zu einer Quelle dauerhafter Ressentiments wird.


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Bitte beantworten Sie uns hierfür bis zum 29. Juni, 11Uhr folgende Frage an abo@ostpol.de:
Warum hält es Stefan Chwin für sinnvoll, die eigene Kultur auf die Probe zu stellen?
Die Antwort finden Sie in dieser Leseprobe. Viel Glück!


Die eigene Kultur herausfordern

Jeder Versuch, ihnen zu suggerieren, „unsere“ Kultur sei besser (und stehe höher) als „eure“, könnte ihre Einstellung zu allem Deutschen oder Polnischen ins Negative wenden, und zwar für immer. Man muss den Menschen Zeit geben, sich die Welt, die sie betreten, in Ruhe anzuschauen. Sie werden nur dann der „Leitkultur“ näherkommen oder sie sogar als die eigene akzeptieren, wenn sie spüren, dass diese Kultur die Bedürfnisse ihres Geistes wirklich befriedigt.

Man könnte natürlich die Immigranten zwingen, eine Art „nationale Prüfung“ abzulegen. Aber ein solcher Zwang würde wohl nur Vorurteile wecken. Wird also der „Verfassungspatriotismus“ allein genügen? Wenn man an die Anziehungskraft einer Kultur glaubt, dann ja. Das sage ich auch meinen Studenten in Polen: „Wehrt euch nicht gegen die Fremden, tut alles, damit sie die polnische Kultur faszinierend finden. Vielleicht werden sie sich dann gründlicher mit ihr befassen.“ Außerdem ist es sinnvoll, hin und wieder die eigene Kultur auf die Probe der Begegnung mit dem Fremden zu stellen. Wenn sie aus dieser Probe unbeschadet hervorgeht, wenn sie ihre Identität bewahrt und für andere attraktiv bleibt, dann ist es ein Zeichen, dass sie gut in Form ist.

Aber vielleicht kommt alles ganz anders, und die echte „Leitkultur“ der europäischen Gesellschaften wird eine Mischung aus ihren Nationalkulturen und der amerikanischen Massenkultur sein? Schließlich wissen heute mehr Menschen auf der Welt, wer hinter dem Namen Batman steckt, als wer Jesus Christus war.

Als ich vor einem Monat mit dem Zug von Aachen nach Köln fuhr, erklang in meinem Abteil nur Deutsch, und es fuhren mit mir zusammen: eine dunkelhäutige Schönheit, die in der Sprache Goethes übers Handy mit ihrem Freund aus Düsseldorf plauderte, ein asiatischer Geschäftsmann, der auf Deutsch an seinem Laptop schrieb, und zwei Frauen mit russischen Gesichtszügen, die sich deutsche Witze erzählten. Das kam mir ein wenig seltsam vor, doch plötzlich spürte ich ... ungeheuren Neid. Was für eine Kraft steckt doch im Deutschen, dachte ich, dass es so selbstverständlich in so vielen Hautfarben existieren kann! Und dass es gar nicht verschwindet! Ach, könnte doch in Zukunft auch unser polnischer Geist eine solche Kraft haben!



Dies ist eine gekürzte Textpassage aus dem Kapitel „Der Ausländer“.



    

 

Stefan Chwin
Ein deutsches Tagebuch
aus dem Polnischen von Marta Kijowska
edition.fotoTAPETA
250 Seiten
ISBN: 978-3-940524-32-4
19,80 Euro


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