Ungarn

Nächste Abfahrt ungewiss

Rund 30 junge Männer stehen in der Sommerhitze vor dem Budapester Ostbahnhof und machen ihrer Verzweiflung in Sprechgesängen auf Arabisch Luft. Andere rufen „Deutschland, Deutschland“. Und allen ist klar, worum es hier geht: um eine Chance auf Frieden, auf Freiheit. Ungarische Polizisten haben den Bahnhof am Dienstag für Flüchtlinge gesperrt, nachdem am Tag zuvor noch tausende ohne Kontrollen mit den Zügen gen Westen fahren konnten.

Die Unsicherheit darüber, gar nicht mehr aus Ungarn fortzukommen oder sich auf gefährliche Fahrten mit Schleppern einlassen zu müssen, sitzt bei den Flüchtlingen tief. Doch so aufgeheizt die Stimmung vor dem Bahnhof ist, von Eskalation ist nichts zu spüren.

Seit neun Wochen ist der Ostbahnhof in der ungarischen Hauptstadt Durchgangs- und Sammelstelle für Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, dem Irak und Afrika. Laut der ungarischen Flüchtlingsorganisation Migration Aid sind es mittlerweile um die 2.000, die hier auf ihre Angehörigen warten oder auf einen Platz im nächsten Zug hoffen. Sie schlafen auf dem Steinboden in der Unterführung, wer Glück hat auf einer Matratze oder im Zelt.


Die Flüchtlinge wurden aus dem Bahnhof vertrieben und warten jetzt in einer anliegenden Unterführung / Foto: Laszlo Mudra, n-ost

Geschätzte 1.500 Flüchtlinge schaffen es Tag für Tag über die serbische Grenze nach Ungarn. Wer nicht bereits vorher mit Schleppern Richtung Österreich und Deutschland startet, der steuert den Ostbahnhof in Budapest an. Ab hier fahren Züge nach Wien, München und Berlin. Laut Angaben der Einwanderungs- und Ausländerbehörde haben bis zum 24. August mehr als 130.000 Menschen einen Antrag auf Asyl in Ungarn gestellt. Doch das Credo für die Flüchtlinge hier lautet: so schnell wie möglich weiter.


Das Ziel ist Deutschland

Auch der 63-jährige Murfa aus dem syrischen Damaskus ist vor sechs Tagen mit seiner Familie in Ungarn angekommen. Der Schneider im weißen Hemd, adrett mit Bügelfalten an den Ärmeln, ist mit seiner Ehefrau, Tochter Dschaina und deren beiden Kindern unterwegs. Der Ehemann der 36-jährigen Dschaina hat es bereits nach Wien geschafft, nun soll der Rest der Familie nachkommen. Das Ziel ist Deutschland.

Ein Loch im Grenzzaun zu Serbien war das Glück der syrischen Flüchtlingsfamilie. Die rechtskonservative Regierung unter Premier Viktor Orban stellte den Zaun aus NATO-Draht entlang der ungarisch-serbischen Grenze auf 175 Kilometern Länge auf; erst am Wochenende wurde der erste Abschnitt fertiggestellt.


Solidarität in der Bevölkerung

Das Wochenende ist den am Budapester Ostbahnhof gestrandeten Flüchtlingen jedoch vor allem wegen der Tragödie präsent, bei der 71 Flüchtlinge in einem Kühllastwagen in Österreich starben. „Auch wenn sie nicht offen darüber sprechen, die Menschen hier wissen von dem schrecklichen Vorfall“, so Philipp Karl. Der 28-jährige deutsche Doktorand ist als freiwilliger Helfer fast jeden Tag am Ostbahnhof im Einsatz.

Die Zugtickets von Murfas Familie nach Wien sind noch bis Donnerstag gültig. Wann internationale Züge den Ostbahnhof wieder anfahren, ist ungewiss. Noch diese Woche folgen Verhandlungen Orbans in Brüssel und mit der Visegrád-Gruppe; im Parlament wird indes über den Einsatz von Soldaten an der Grenze zu Serbien debattiert. Darüber hinaus sorgen Grenzjäger, die ab sofort zusätzlich zu den Polizeibeamten auf Patrouille gehen, für Unmut unter Regierungskritikern. Die Budapester organisieren bereits Solidaritätsproteste.


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