Russland

Abschied von Neurussland

Es gab Zeiten, da war Alexander Borodaj ein Starpolitiker: Damals im Sommer 2014, als in der Ostukraine Artillerie donnerte, Panzer rollten, der Malaysia-Airlines-Flug MH17 vom Himmel gebombt und ein neuer Staat gegründet wurde. Sein Staat, wenn man so will. Borodaj, 43, russischer Staatsbürger, amtierte knapp vier Monate lang als Kriegspremier der „Donezker Volksrepublik“, die von Separatisten im Osten der Ukraine mit Unterstützung des Kremls ausgerufen worden war. In seiner Funktion als Regierungschef leitete er Sitzungen, befahl Militäreinsätze und gab, umringt von vermummten Kämpfern, Pressekonferenzen.

Dabei vertrat er nicht nur einen kleinen Phantomstaat, sondern eine große Idee, die eine Zeit lang als neue Ideologie von Wladimir Putin gehandelt wurde: „Neurussland“ – einer imperialen Macht, die weit über die derzeitigen Grenzen Russlands hinausreichen und ihm zu alter Größe verhelfen sollte.

Nicht einmal zwei Jahre danach redet kaum noch jemand von „Neurussland“. Von den tausenden seiner Landsleute, die als bewaffnete Freiwillige in den Donbass gingen, sind viele nach Russland zurückgekehrt: Enttäuscht, frustriert und trotzdem nicht bereit, aufzugeben.


Kreml dementiert Unterstützung

Borodaj, der aus einer Philosophenfamilie stammt und selbst Philosophie studiert hat, sitzt im Café eines edlen Einkaufszentrums in Moskau und träumt von den alten Zeiten. Wenn er über „Neurussland“ spricht, wählt er Worte, die zwar zum luxuriösen Ambiente, aber so gar nicht zur Wucht eines Krieges passen wollen: Neurussland? Das sei eine „Allegorie“, ein Traum, eine überzeitliche Vision. Eine Idee, die viele Russen bis heute teilen. „Ja, ich bin noch immer ein Anhänger von Neurussland. Aber wir wurden im Donbass gestoppt“, sagt er bitter.

Im Frühjahr 2014 hatte Borodaj an der Annexion der Halbinsel Krim durch Kreml-Truppen teilgenommen, danach war er gemeinsam mit anderen „Volksmilizionären“ in den Donbass, das pro-russische Industriegebiet im Osten der Ukraine weitergezogen. Damals schien Nationalisten wie ihm alles möglich zu sein: Ein Vorstoß über den Süden und Osten der Ukraine bis nach Odessa und weiter nach Transnistrien oder gleich die Annexion des gesamten Nachbarlandes. Für einen Revolutionär der ersten Stunde begegnet Borodaj jetzt der Frage, warum am Ende doch nichts aus „Neurussland“ wurde, mit erstaunlicher Gelassenheit: „Der Kreml muss eben auf die Interessen der gesamten Föderation achten und kann sich seine Handlungen nicht von ein paar Freiwilligen wie uns diktieren lassen.“

Die Regierung von Präsident Wladimir Putin hat die separatistischen Tendenzen in der Ostukraine zweifelsohne unterstützt, wenngleich zögerlicher als auf der Krim und ohne klare Kommandostruktur. „Das Projekt Neurussland ist eine Idee der kremlnahen russischen Nationalisten und hat organisatorische, nachrichtendienstliche und militärische Hilfe vom Kreml erhalten“, sagt der russische Extremismus-Forscher Nikolaj Mitrochin. Dass Schlüsselfiguren der militärischen Aktivitäten im Donbass auf der Gehaltsliste des russischen Militärs standen, wird vermutet, aber immer wieder dementiert.


Alles aufgeben für den Krieg

Die viel zitierten Freiwilligen oder „Urlauber“, von denen die Kreml-Führung in einer frühen Phase des Konflikts sprach, gab es aber ebenso. Leute wie Andrej Lesnik etwa. Der 24-jährige mit blondem Haarschopf verkaufte 2014 sein Elektro-Geschäft in St. Petersburg, um im Donbass zu kämpfen. Alles aufgeben für den Krieg? „Das kann wahrscheinlich nur ein Russe verstehen“, lacht Lesnik. Auch er träumt von einem großrussischen Reich.

Lesnik ist wieder zurückgekehrt nach Moskau. Er sitzt im Warenhaus GUM, der Einkaufspassage am Roten Platz, und weist in Richtung Kremlmauer. „Als Putin öffentlich gesagt hat, dass er die Russen im Ausland beschützen wird, gab es natürlich die Hoffnung, dass im Donbass dasselbe passieren wird wie auf der Krim.“

Lesniks Profil auf Vkontakte, dem russischen Facebook, liest sich wie ein nationalistisches Manifest: „Heimat: Wladiwostok – St. Petersburg – Donezk“, steht da etwa. Auch Fotos von verkohlten ukrainischen Soldaten hat er auf seiner Seite hochgeladen. Entstanden sind sie, als er im Sommer 2014 mit zehn Kameraden im Bus an die Front nach Donezk reiste.

Heute ist Lesnik von der Kreml-Politik enttäuscht – so sehr, dass er sich mittlerweile wieder als Oppositioneller versteht. Was bleibt, sei der Betrug am Volk, auch in der Ukraine, sagt er. Der Verrat an „Neurussland“ sei schon mit den Minsker Friedensabkommen eingeläutet worden: „Die ukrainische Armee war eigentlich schon am Boden. Die Aufständischen hätten sehr weit vordringen können.“ Auch die Hoffnung, dass Russland die Volksrepubliken Donezk und Luhansk doch noch offiziell annektieren würde, hat sich zerschlagen. Da die Kämpfer offiziell als Freiwillige an die Front gingen, gibt es auch keine staatlichen Leistungen für Verletzte oder Angehörige von Todesopfern. Denn eine direkte Beteiligung am Krieg in der Ostukraine streitet Moskau bis heute ab.


Sanktionen des Westens zeigten Wirkung

Warum ließ der Kreml Neurussland fallen? Die russische Führung sei schlichtweg nicht bereit gewesen, einen Krieg, der sich auf andere Territorien ausweitet, zu unterstützen, schreibt der russische Politologe Dmitri Oreschkin. Wenn die Offensive „weiter in die Ukraine vorgedrungen wäre, hätte der Westen Kiew massiv mit tödlichen Waffen beliefert“ – ein Szenario, das den Kreml überfordert hätte.

Zudem sei die Stimmung in den angrenzenden Gebieten des Donbass keineswegs eindeutig pro-russisch gewesen. Aber auch die Sanktionen des Westens hätten zum Scheitern des Projekts „erheblich beigetragen“, glaubt der russische Journalist Andrej Gurkov: „Die EU hat Moskau gezeigt, dass sie handlungswillig und handlungsfähig ist, und das machte die Androhung weiterer, deutlich härterer Sanktionen im Falle einer weiteren russischen Expansion glaubhaft. Das alles trieb den möglichen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Preis für die Schaffung eines ‚Neurussland’ dermaßen in die Höhe, dass der Kreml dieses Vorhaben letztendlich fallen ließ.“


Freiwillige warten auf neue Chance

Seither versucht der Kreml offenkundig, den Status quo in den Separatistengebieten einzufrieren. „Der Kreml erachtet die erste Phase für abgeschlossen, und geht jetzt daran, dieses Territorium zu legalisieren und ihm einen Status zu verleihen, der sich formal im Verband der Ukraine, aber de facto unter russischer Kontrolle befindet“, schreibt Oreschkin – ähnlich wie Transnistrien, das sich nach dem Zerfall der Sowjetunion mit russischer Unterstützung von der Republik Moldau abgespalten und einseitig seine Unabhängigkeit erklärt hatte.

Dass Russland im Donbass eher dem Beispiel von Transnistrien als dem Beispiel der Krim folgen wird, steht für viele Beobachter außer Zweifel. Zuletzt wurde der Putin-Vertraute Boris Gryslow zum neuen russischen Chefverhandler für die Minsker Kontaktgruppe ernannt, um Bewegung in die Friedensgespräche zu bringen. Beobachter werten das als mögliches Zeichen, dass Russland sein Engagement in der Ostukraine zurückfahren möchte.

Für Borodaj tut das alles wenig zur Sache. Die Ukraine zerfalle früher oder später sowieso, und dann würden sie wieder zur Stelle sein – die vielen Kämpfer des Donbass, die Freiwilligen, prophezeit Borodaj. Stolz zeigt Borodaj ein Video von der Rede, die er auf einem Trainingscamp für Donbass-Veteranen gehalten hat. „Eines möchte ich euch sagen, vor allem den Donezkern, die heute hier sind. Die Arbeit, die wir 2014 angefangen haben“ – den folgenden Satz formt er jetzt mit dem Mund noch einmal mit – „die Sache ist noch nicht vorbei.“


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