Türkei

Nach dem Putschversuch


In der Nacht des Putsches wurde das Internet nicht gesperrt und die Fernsehstationen sendeten live. Nachdem Erdogan die Menschen über Facetime aufgerufen hatte, auf die Straßen und Plätze zu gehen, wiederholten die Muezzine aller Moscheen landesweit die ganze Nacht den islamischen Gebetsruf.

Das Leben in Istanbul läuft scheinbar wieder normal. Doch es liegt ein Unbehagen in der Luft, eine Art lautlose und dennoch wahrnehmbare Beklemmung, die vorher nicht spürbar war. Nicht einmal nach den Terrorangriffen, von denen die Türkei im vergangenen Jahr erschüttert wurde. Busse und Bahnen waren für ein paar Tage kostenfrei. Wer das Sicherheitspersonal fragte warum, bekam zur Antwort: „Nach all dem was passiert ist, ist jetzt ein nationaler Feiertag.” In Festtagsstimmung sind jedoch die wenigsten. Allein die AKP-Unterstützer fahren umher, schwenken türkische Flaggen, skandieren „Allahu akbar“ und fordern bei Kundgebungen ihrer Partei die Wiedereinführung der Todesstrafe.

Auch wenn alle Oppositionsparteien den versuchten Militärputsch nachdrücklich verurteilten, auch wenn der Glaube an demokratische Werte im modernen und säkularen Teil der türkischen Gesellschaft einen maßgeblichen Anteil an der Vereitelung des Staatsstreichs hatte – die Lorbeeren haben die Islamisten eingeheimst. Sie nutzen die Möglichkeit, die ihnen „ihr“ Sieg eröffnet hat, einen nicht sonderlich verdeckten Feldzug gegen alle zu führen, die nicht so sind wie sie, die nicht ihren Lebensstil teilen.

Wie empfinden Türken, die sich sowohl gegen den Militärputsch, als auch gegen den immer autokratischeren Erdogan stellen?

Seit Freitag kann er nicht mehr richtig tief Luft holen, sagt Kerem, ein 39-jähriger Fotojournalist. Denn immer dann sieht er die Gesichter der jungen überwältigten Putsch-Soldaten und ihrer Auspeitscher auf der Bosporus-Brücke. „Ich frage mich: Was ist gefährlicher für die Zukunft der Türkei? Ist es ein Militärputsch oder ist es die Wut der AKP-Anhänger auf der Straße?“

Batuhan, ein 25-jähriger Ingenieur, möchte sich am liebsten gar nicht mehr mit Politik beschäftigen:
„Ich bin es seit ein paar Monaten leid, darüber nachzudenken was in diesem Land passiert und verfolge die Nachrichten nicht. Doch der Freitag war besonders beängstigend, denn die Straßen wurden blockiert. Das ist in einer Stadt wie Istanbul sehr ungewöhnlich und ich dachte, dass verrückte Menschen uns antun können, was sie wollen. Jetzt haben wir keine Ahnung, wie es weitergeht. Und ich denke, dass wir alle in Gefahr sind.“

Eine Sorge, die auch die 24-jährige Architektin Merve hat: „In der Freitagnacht hörte ich Schüsse und die Militärflugzeuge über uns hinwegfliegen. Am nächsten Morgen schien alles wieder normal. Doch es gibt immer noch Aufrufe, auf die Straße zu gehen. Das scheint die Menschen nicht zu beruhigen, sondern im Gegenteil nur noch mehr Chaos zu verursachen. Ich bin mehr denn je um die Zukunft der Türkei besorgt.“

Die 31-jährige Webdesignerin Nil lebt derzeit in London, eine Rückkehr in die Türkei kann sie sich jetzt nicht mehr vorstellen. „Ich glaube nicht, dass der gut gebildete, säkulare Teil der Gesellschaft einer strahlenden Zukunft entgegen blickt. Meine einzige Hoffnung ist es, irgendwo in der Welt eine gemeinsame Basis zu finden, auf der gleichgesinnte Menschen zusammenkommen und die Möglichkeit haben, ihre Hoffnungen und Ziele zu verwirklichen. Das wird leider nicht in der Türkei sein.“

Angst und Hoffnungslosigkeit sind zunehmend allgegenwärtig: „Ich habe drei Militärputsche erlebt und viele schreckliche Zeiten, aber ich hatte noch nie so viel Angst wie am Freitagabend“, sagt Meral, ein pensionierter Bankangestellter aus Ankara. „Dieses Land ist am Ende, unsere Hoffnungen sind begraben.“

Mehr als siebzig Prozent der türkischen Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre – und auch die junge Generation verliert die Hoffnung, die sie seit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 hegte. So wie Ömer, ein 27-jähriger Masterstudent: „Der blutige Freitag hat die Büchse der Pandora geöffnet und ich glaube nicht, dass sich am Büchsenboden Hoffnung findet.“ Er verbrachte die ganze Nacht damit, seine Freunde anzurufen, möglichst viele Informationen zu bekommen und zu diskutieren, wie es weitergeht. „Unsere Eltern sind mit Militärputschen vertraut, aber unsere Generation war es bis Freitag nicht. Was mich in der Nacht am meisten sorgte war, was danach kommt. Ich habe tagelang geweint und tue es immer noch. Ich bin zu müde, um zu reagieren.“ Der versuchte Putsch habe ihn vollkommen verändert, und er sei nicht der Einzige: „Jeder will hier weg, ich auch. Leute warnen einander vor der Hexenverfolgung, die seit Freitag stattfindet. Wir haben Angst auf die Straße zu gehen. Wir beäugen unsere Nachbarn aus Angst, dass sie sich als Mörder entpuppen könnten.“


Kadikoy nach dem Putsch: Normalerweise ist das der belebteste Bezirk auf der asiatischen Seite Istanbuls.


Einer der allgegenwärtigen Stände in Kadikoy an denen Simits (Sesamringe) verkauft werden. Viele Verkäufer entschieden sich am Tag nach dem Putsch, nicht zu öffnen.


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