Russland

Der höchste Bahnhof und der tiefste Bunker der Welt

Samara. (n-ost) Samara, im Westen nahezu unbekannt, gehört mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern zu den größten Städten Russlands nach Moskau und Sankt Petersburg. Zu Sowjetzeiten war das damalige Kujbyschew eine Schaltstelle der Luft- und Raumfahrtindustrie, Teil des militärisch-industriellen Komplexes und daher eine geschlossene Stadt. Heute bemüht sich die Gebietsregierung mit einigem Erfolg um ausländische Investitionen: Das Gebiet um Samara zählt zu den wohlhabendsten Regionen der Russischen Föderation.
Das beweist ein Bauboom, dem vor allem die historischen Holzhäuser im Stadtzentrum zum Opfer fallen, an deren Stelle große Appartementblocks und Bürotürme aus dem Boden gestampft werden. Die neue Stadtmitte soll sich (post)modern zeigen. Die Glanzzeit Samaras als Kaufmannsstadt und Handelsmetropole – also das 19. Jahrhundert – zu konservieren, interessiert da weniger. "Bisnes" geht hier allemal vor Denkmalschutz: stürzt ein altes Haus ein, wird Platz frei für einen neuen Turm.
Der Bauwut musste auch das historische Bahnhofsgebäude weichen, an dessen Stelle ein neues hoch gezogen wurde. Stahl und Glas umhüllen den Turm, der den Bahnhof von Samara zum höchsten der Welt macht und zugleich zum neuen Wahrzeichen der Wolgastadt. Neben Büros sind darin ein kleines regionales Eisenbahn-Museum, ein Hotel, ein Friseur und vor allem Spielautomaten untergebracht. Die großen Scheiben mussten bereits mehrmals ausgetauscht werden, weil durch die Vibrationen, die die darunter verkehrenden Zügen verursachen, Sprünge und Risse entstanden.
30 Rubel, knapp einen Euro also, kostet die Fahrt mit dem Panoramalift in den sechsten Stock des riesigen Glasturms. Im vornehmen Wartesaal können Reisende in Ledersesseln – gegen ein weiteres Entgeld – Zeitungen lesen oder fernsehen. Auf der 14. Etage bietet eine Aussichtsplattform einen weiten Blick über die Stadt.
Die Bahnhofsuhr zeigt die gleiche Uhrzeit an, wie die von Wladiwostok, Endstation der Transsibirischen Eisenbahn, sieben Zeitzonen weiter östlich – nämlich die Moskauer Zeit. Was in einem westeuropäischen Bahnhof selbstverständlich erscheint, verwundert an diesem Ort: eine hell ausgeleuchtete Eingangshalle, polierte Granitplatten auf dem gefliesten Boden, elegante Rolltreppen. Auf Flachbildschirmen kann man sich über den Fahrplan informieren – über Züge, die aus dem sibirischen Irkutsk am Baikalsee kommen und dann weiter nach Simferopol am Schwarzen Meer fahren oder von Tscheljabinsk am Ural nach Charkow in der Ukraine zuckeln.
Wie in jedem größeren russischen Bahnhof gibt es neben einer kleinen Apotheke mehrere Kioske, die alle dasselbe verkaufen - Bier, Erfrischungsgetränke, Zigaretten, Kekse, Eis, Schokolade, Chips. Alles gut bewacht von einer massiven Polizeipräsenz.
Über lange tunnelartige Treppen gelangt man zu den Bahnsteigen, schon weniger prächtig als das Innere des Bahnhofs, aber ordentlich gepflastert, beleuchtet und überdacht. Wie auf einem gewöhnlichen russischen Bahnhof bieten ältere Frauen Reiseproviant, Zeitungen und Zeitschriften feil. Grüppchen von Leuten verabschieden ihre Lieben auf eine meist tagelange (und langsame) Reise, rauchende Männer in Trainingsanzügen und Hausschuhen nutzen den Halt im Bahnhof, um sich etwas die Beine zu vertreten, und am Eingang zu jedem Wagon wartet eine uniformierte Zugbegleiterin, die die Fahrscheine kontrolliert und den Gästen in ihrem kleinen Herrschaftsbereich die Plätze anweist, später die Bettwäsche verteilen und Wünsche, etwa nach einem Glas Tee, entgegennehmen wird.
Mitten im Zentrum, am Tschapaew-Platz, liegt eine weitere Attraktion Samaras: der Stalin-Bunker. Er ist der tiefste der Welt, versichert der Mitarbeiter des heutigen Museums beim Abstieg in den gigantischen Keller unter der Kunstakademie.
Als Hitlers Armeen Moskau bedrohlich nahe gekommen waren, wurde die russische Hauptstadt nach Kuibyschew verlegt. Dafür gab es gute Gründe: die nur schwer zu überwindende Wolga und die Lage an der Transsibirischen Eisenbahntrasse. Mit der Regierung zogen damals 22 Botschaften um, auch der Rundfunk sendete bereits von der Wolga (trotzdem wurde das Programm immer noch mit "Hier spricht Moskau" eingeleitet).
1942 wurde der Bunker gebaut, in nur neun Monaten und in aller Heimlichkeit, die Bevölkerung durfte nichts davon bemerken - kaum vorstellbar bei einem Erdaushub von 25.000 Tonnen. Doch erst 1991 wurde der Bau wiederentdeckt und als Museum geöffnet.
Da es seinerzeit schnell gehen musste, konstruierte man den Bunker aus fertigen Komponenten, die für die Moskauer Metro bestimmt waren. Bis zu 600 Menschen sollten Schutz finden vor Bomben, bis zu zwei Tonnen schwer. Eine eigene Wasser- und Stromversorgung und ein eigenes kleines Kraftwerk sollten längere Aufenthalte ermöglichen.
Zur Besichtigung frei gegeben sind ein Sitzungssaal und Stalins Arbeitszimmer samt einem Erholungsraum. Die Einrichtung der Zimmer strahlt die Eleganz der 40er Jahre aus. An Holz wurde nicht gespart. Über dem Eingang des Sitzungssaa hängen die Porträts von Marx, Engels und Lenin. Stalins Kabinett ist eher asketisch eingerichtet, ganz ohne jeden Luxus. Es hat vier Türen, denn Besucher wollte der Diktator dadurch verunsichern, dass sie nie wissen konnten, durch welche Tür er hereinkommen werde.
Auf die Frage, ob Stalin je hier war, gibt es zwei Antworten. Die einen meinen, das sei nicht bekannt, da er mehrere Doppelgänger hatte. Andere behaupten, Stalin hätte als einziger der Führungsriege in Moskau ausgeharrt und so die entscheidende Wende im Kriegsgeschehen herbeigeführt.
Samara verfügt also gleich über zwei Superlative: den tiefsten Bunker und den höchsten Bahnhof der Welt. „Beides nutzlose Rekorde", wie der Museumsführer meint.

Ende 

Thomas Keith


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