Ukrainische Lehrer treiben Schulden mit Hungerstreik ein
Tamara hat es sich in ihrem Zelt bequem gemacht. Matratzen, warme Decken und Kissen machen das Zelt zum gemütlichen Bett. Obwohl sich die Geschichtslehrerin zusätzlich in dicke Jacken gewickelt hat, macht ihr die Kälte zu schaffen. Besonders in der Nacht spürt sie den plötzlichen Kälteeinbruch der letzten Tage. Ihre Familie unterstützt den Kampf der 60-Jährigen, macht sich aber auch große Sorgen. Denn trotz aller Vorsichtsmaßnahmen setzen die streikenden Lehrer ihre Gesundheit aufs Spiel. Der Hungerstreik ist einer der Höhepunkte einer ungewöhnlich hart geführten Wahlkampagne um das Amt des ukrainischen Staatspräsidenten. Am 31. Oktober sollen die Ukrainer zwischen 26 Bewerbern einen Nachfolger für Leonid Kutschma bestimmen. Mit einer Stichwahl wird gerechnet.
„Die jetzigen Machthaber und auch die, die nun um die Macht kandidieren, sind es nicht wert, dass wir wegen ihnen unsere Gesundheit auf´s Spiel setzen. Selbst das Geld, um das wir kämpfen, ist diese Strapazen nicht wert. Aber uns geht es jetzt um´s Prinzip und unsere Beispielstellung als Lehrer. Unsere Schüler schauen auf uns. Wir streiken, bis wir unser Ziel erreicht haben.“ So sieht es Tamara.
Seit 1996 schuldet der ukrainische Staat seinen Lehrern über vier Milliarden ukrainischer Hrywen (ca. 5,8 Millionen Euro). Das ist in einem Land, in dem Lehrer kaum 100 Euro monatlich verdienen, eine gewaltige Summe. Mittlerweile gibt es einen Erlass des Präsidenten, laut dem die Schulden im Verlauf der nächsten fünf Jahre ausgezahlt werden sollen. Aber fünf Jahre wollen die streikenden Lehrer nicht warten. Tamara zum Beispiel sagt: „Woher wissen wir denn, ob der Staat auch Wort hält und die Gelder wirklich auszahlt. Außerdem ist dieses Geld schon jetzt nicht mehr viel Wert. Die Inflation ist seit 1996 entschieden gewachsen. In fünf Jahren haben wir wahrscheinlich gar nichts mehr davon.“
Proteste der Bevölkerung gegen staatliche Willkür werden von den Behörden in der Ukraine sonst kaum beachtet. Diesmal ist der Zeitpunkt gut gewählt: Das Land befindet sich in der Hochphase des Präsidentenwahlkampfes. Präsident Kutschma darf nach zwei Amtszeiten nicht wieder antreten. Sein Favorit ist Ministerpräsident Viktor Janukowitsch. Mit Viktor Juschtschenko gibt es einen aussichtsreichen Gegenkandidaten, der vor allem in der Westukraine große Unterstützung findet. Die Regierung versucht Juschtschenko mit einem gigantischen Propagandafeldzug zu verhindern. Womöglich wurde sogar ein Giftanschlag auf den Kandidaten verübt. Der gesundheitlich sichtbar angeschlagene Juschtschenko behauptet dies, die Regierung spricht von Lügenmärchen.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass die erbitterten Proteste in Lwiw (Lemberg), der Hauptstadt der Westukraine stattfinden, eine Hochburg Juschtschenkos und eine Stadt, die wie keine andere unter der Dominanz des aus westukrainischer Sicht „russischen“ Kiews leidet. Es ist hier nicht der erste Hungerstreik. Bereits im Frühling hungerten die Lehrer eines Lwiwer Stadtteils, später protestierten sie vor dem Rathaus.
Der jetzige Hungerstreik begann am 7. Oktober. Die Lehrer haben den Bürgersteig vor dem Lwiwer Wahlkampfbüro von Premierminister Janukowitsch als Ort ihres Protests gewählt. Dieser Standort war ihnen noch am Morgen des 7. Oktober vom Lwiwer Gericht verboten worden. Daher erschienen auch sofort Vertreter des Gerichts sowie die Polizei. Trotzdem blieben die Lehrer vor dem Wahlkampfbüro Janukowitschs – Stadt und Staat hätten nicht nur einmal gegen die Gesetze verstoßen. Gericht und Polizei verzichteten auf Gewalt, die Lehrer streiken weiterhin am selben Ort.
Der Leiter des Wahlkampfbüros Oleksij Radzijewskyj wertet den Hungerstreik als wahlkampftaktische Aktion, um Janukowitsch zu schaden. Dem widersprechen die Lehrer entschieden. Sie wollen nur ihr Geld, sagen sie. Bevor sie dieses nicht bekommen, werden sie den Hungerstreik nicht beenden. In den nächsten Tagen wollen sie weitere Zelte vor dem Rathaus und vor der staatlichen Gebietsverwaltung aufstellen, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Zurzeit streiken jeweils zehn Personen im Wechsel. Am längsten hungerte Jaroslaw Paschtschak.
Nach sieben Tagen musste er wegen Unterkühlung und völliger Entkräftung ins Krankenhaus eingeliefert werden. Dort bemühten sich die Ärzte, seine Körperfunktionen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Sollte es sein Gesundheitszustand erlauben, so will Jaroslaw Paschtschak auf jeden Fall weiter am Hungerstreik teilnehmen, um das gesetzte Ziel zu erreichen.