„Senzow ist keine Abstraktion“

Im September ist Lwiw voll von Touristen. In den letzten Jahren werden es immer mehr. Neue Restaurants, Kaffeehäuser, Straßenmusiker. Schwer vorzustellen, dass in dieser Zeit im Osten des Landes die Kämpfe andauern. Um zwölf findet eine Flashmob-Aktion vor dem Rathaus statt - Schriftsteller, die zum jährlichen Verlegerforum, der größten Buchmesse des Landes, gekommen sind, fordern die Freilassung ihres Kollegen, des Drehbuchautors und Filmregisseurs Oleg Senzow. Es geht hier weniger um “fordern” (von wem sollte man das auch in Lwiw fordern?), sondern darum, die allgemeine Aufmerksamkeit auf “die Senzow-Frage” zu lenken und uns alle - und sich selbst - an die Notwendigkeit zu erinnern, etwas zu tun. Und sei es nur die Entwicklung dieser dramatischen Geschichte zu protokollieren.
Im Forum werden Aufkleber verteilt. Darauf wird die Anzahl der Tage angegeben, die Senzow im Hungerstreik verbracht hat. Senzows Porträts hängen an den Theaterfassaden. Überall spricht jeder von Senzow - in den sozialen Netzwerken wählen zahlreiche Ukrainer die Parole “Free Sentsov” als Profilbild. Diese Parole hängt auch in Boryspil, dem größten Flughafen des Landes. Über Senzow reden Politiker, und Aktivisten organisieren Aktionen zu seiner Unterstützung. Vor einem Jahr hatten wir schon eine ähnliche Situation mit einer anderen ukrainischen Staatsbürgerin, die in Russland verurteilt worden war - Nadija Sawtschenko. Die ehemalige Kampfpilotin trat ebenfalls in Hungerstreik und wurde damals, vor einem Jahr, auch vom aktiven Teil der ukrainischen Gesellschaft unterstützt. Später kehrte Sawtschenko in die Ukraine zurück, arbeitete als Abgeordnete im Parlament, machte eine Reihe von seltsamen und widersprüchlichen Statements, löste eine allgemeine Enttäuschung aus und landete schließlich wiederum im Gefängnis. Diesmal in einem ukrainischen; ihr wird die Vorbereitung eines Staatsstreichs vorgeworfen.
Senzows Hungerstreik sah etwas anders aus. Von Anfang an gaben die von ihm formulierten Forderungen kaum Anlass zum Optimismus. In diesem Kampf zwischen einem Gefangenen und dem System konnte man kaum auf die Menschlichkeit des Systems hoffen oder generell auf die Möglichkeit, dass man sich mit dem System irgendwie verständigen, irgendeinen Kompromiss erreichen kann.
Mechanismen von politischem Kalkül, Konjunktur und Zynismus wirken weiter
Während des 145 Tage dauernden Hungerstreiks gab es unzählige Möglichkeiten, um sich einer einfachen Sache zu vergewissern: Die Welt hat sich hoffnungslos verändert, alle Verträge und selbstverordneten Balance-Regeln sind zu relativistisch, als dass man sich auf sie stützen und verlassen könnte. Sie funktionieren schlichtweg nicht. Die Geschichte dreht sich fatal im Kreis, ohne, dass wir etwas dazulernen.
Wie sich herausgestellt hat, ist das 20. Jahrhundert mit seiner Massenpsychose und seinem totalen Wahnsinn doch nicht vorüber. Seine Mechanismen wirken weiter. Mechanismen von politischem Kalkül, Konjunktur und Zynismus. Mechanismen der Angst und Einschüchterung. Wenn wir unsere eigenen Fehler nicht aufarbeiten, sind wir dazu verdammt sie zu wiederholen. Der Kalte Krieg ist nach wie vor eine bequeme Art, die Welt zu sehen und zu verstehen. Nur dass all diese logischen geopolitischen Konstrukte und Kalkulationen auf ganz realen gebrochenen Schicksalen und Biographien basieren. Politik ist eine Abstraktion, die ganz reales Blut fordert.
Der Hungerstreik von Oleg Senzow, der in Russland zu zwanzig Jahren Haft verurteilt wurde, zeigt, wie relativ Begriffe von Recht und Gerechtigkeit in unserer Welt geworden sind. Besser gesagt, wie unwichtig diese Begriffe sind, wie leicht man sie ignorieren kann, wie einfach sie zur Fiktion werden. Wir Ukrainer sind damit zum ersten Mal im Frühjahr 2014 konfrontiert worden, als Russland innerhalb von wenigen Wochen brutal und zynisch die Krim annektierte, ohne es wirklich zu verbergen. Aber es gleichzeitig hartnäckig dementierte. Eben dort, auf der Krim, wurden Senzow und viele andere ukrainische Staatsbürger festgenommen, eben dort hat der nicht erklärte Krieg zwischen Russland und der Ukraine begonnen, der nun schon das fünfte Jahr andauert. Ein Krieg, der das labile Gleichgewicht zerstörte, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Müh und Not erreicht wurde. Ein Krieg auf europäischem Boden. Ein Krieg, den Europa manchmal nicht wahrnehmen möchte, um weiterhin dem Aggressor Avancen zu machen und sich selbst starrköpfig einzureden, dass der Spieler, der grob gegen die Spielregeln verstößt, trotzdem das Recht habe, auf dem Feld zu bleiben. Es wäre dann alles in Ordnung, vormachen könnte man sich so einiges und jede Situation könnte man unterschiedlich betrachten und einschätzen - gäbe es da nicht ein großes “Aber”...
"Okkupation ist Okkupation. Aggression ist Aggression"
Tatsächlich zeigt der Fall Senzow (und die Fälle Dutzender ukrainischer politischer Gefangener, die von Russland festgehalten werden), dass alle optimistischen Varianten für einen Kompromiss mit dem Kreml unmöglich sind. Die kluge Rationalität einiger europäischer Politiker zerschlägt sich an der konkreten Geschichte des Widerstands und des Kampfes gegen die Ungerechtigkeit. Denn Oleg Senzow ist keine Abstraktion. Oleg Senzow ist eine lebende Stimme, die die Welt vor Fehlern und Niedertracht warnt und sie daran erinnert, dass man Dinge bei ihren wahren Namen nennen muss. Okkupation ist Okkupation. Aggression ist Aggression. Politische Gefangene sind politische Gefangene. Und alle Gespräche über die Interessensphäre Russlands, über die ambivalente Situation und die Wichtigkeit, den Dialog sogar beim zynischen Verstoß gegen alle möglichen internationalen Abkommen fortzusetzen - all dies ist nur ein Versuch, das Böse zu rechtfertigen. Das Böse zu rechtfertigen, das tötet. Und das mit unserem Opportunismus und unseren Kompromissen nur angefeuert wird.
Es fällt schwer, Senzows Situation zu analysieren. Es fällt schwer, darüber mit einer gewissen Distanz zu reden. Niemand weiß, welches Ende diese Geschichte nehmen wird. Wir befürchten das Schlimmste. Jemand hofft vielleicht auf das Schlimmste. Auf jeden Fall ist es eine Geschichte, die eine Bewertung vieler aktueller Ereignisse, Erklärungen und Gesten ist. Und es womöglich auch in der Zukunft sein wird. Wie dieses Urteil ausfällt, hängt von uns allen ab. Die Geschichte hängt insgesamt von uns allen ab. Selbst wenn uns das nicht gefällt.
Übersetzung: Juri Durkot
Serhij Zhadan lebt in Charkiw und zählt heute zu den international bekanntesten Schriftstellern seines Landes. Sein neuester, in diesem Jahr erschienener Roman „Internat” erzählt vom Krieg in der Ostukraine und wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2018 ausgezeichnet.