Sechs Monate danach

Wie blicken armenische Journalisten auf die „Samtene Revolution“ zurück?

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Besuch im n-ost-Büro in Berlin-Kreuzberg. Ein halbes Jahr nach dem gewaltfreien Sturz der Regierung Sargsjan erkundet eine Gruppe armenischer JournalistInnen Berliner Redaktionen und Institutionen. Die Stimmung ist trotz einwöchiger Intensivtour heiter. Die Redebereitschaft: sehr hoch. Wie haben die armenischen KollegInnen Heriknaz Harutyunyan, Tatev Khachatyran und Hakob Karapetyan den Umbruch erlebt und was erwarten sie von der Zukunft?

Im April dieses Jahres gingen Hunderttausende Armenier auf die Straße und zwangen den damaligen Premierminister Sersch Sargsjan zum Rücktritt. Wie habt ihr diese Zeit erlebt?

Als eine Vertreterin der älteren Generation bin ich sehr glücklich über die unblutige Samtene Revolution, vor allem darüber, dass alles so friedlich ablief. Das ist nicht selbstverständlich und dafür ist der Anführer der Revolution, Nikol Paschinjan, verantwortlich. Trotzdem sind die Menschen nicht wegen ihm auf die Straße gegangen, sie wollten ganz einfach Veränderungen. Und sie haben sie bekommen. Jeder fühlt sich als Sieger. Ob jung oder alt – alle sind Teil dieser Revolution. Deswegen ist es ein gemeinsamer Sieg. 

Mein Gefühl ist ein ganz anderes. Als ich über den Beginn der Proteste am 23. April dieses Jahres berichtete, habe ich die Euphorie gesehen, Menschen mit Flaggen, die singend nach Jerewan gefahren sind. Die Menschen waren glücklich. Ich habe so eine Stimmung noch nie gesehen in Armenien. Und trotzdem hatte ich Angst. Ich konnte nicht lachen, ich konnte mich nicht freuen. Als ich all die Massen sah, die Paschinjan folgten, habe ich Angst bekommen, weil ich nicht wusste, was passieren würde. Ich bin mir sicher, dass er nicht der Richtige ist, um Armenien zu verändern. 

Ich verstehe, was du meinst, Tatev. Wenn man sich freut, kann man auch leicht enttäuscht werden. Ich war froh und gleichzeitig besorgt. Armenien ist nicht bekannt für seine demokratische Tradition. Seit der Unabhängigkeit gab es nur einmal freie Wahlen. Das war ein Jahr nach der Unabhängigkeit. Danach hatten wir eigentlich nur Probleme mit der Demokratie, besonders nach 1998. Und trotzdem wurden die politischen Führungskräfte ausgetauscht. Erst der letzte Präsident, Sersch Sargsjan, hat versucht, seine Amtszeit zu verlängern. 2015 hat er die Verfassung geändert, aber versprochen, es nicht für sich zu nutzen. Und dieses Jahr hat er gesagt: Es gibt so viele Probleme, ich kann unsere Nation nicht alleine lassen, und sich zum Premierminister erklärt. Natürlich waren die Menschen verärgert. 

Der ehemalige Journalist und Oppositionspolitiker Nikol Paschinjan hat diese Stimmung erkannt und ist zum Symbol der Revolution geworden. Glaubt ihr, er kann die hohen Erwartungen erfüllen?

In den ersten Wahlen nach der Unabhängigkeit habe ich nicht gewählt, weil ich damals Angst hatte - so wie Tatev heute. Heute bin ich älter und ich sehe nicht nur ein Gesicht, sondern auch was dahinter ist. Ich glaube, Paschinjan ist ehrlich. Natürlich ist er in gewisser Weise ein Populist, aber wie hätte er sonst zum Anführer einer landesweiten Revolution werden sollen? Er versteht es, Leute zu vereinen. Das ist kein simpler Populismus. Er hat die Herausforderungen erkannt und er versteht es sowohl mit den Menschen auf der Straße als auch mit Politikern zu sprechen. Ich habe ihm zunächst auch nicht geglaubt, aber als ich gesehen habe, wie er sechs, sieben Stunden im Parlament stand und die Fragen seiner politischen Gegner beantwortet hat, habe ich mir gedacht: Er ist der Richtige.

Genau das ist das Problem. Das ist Populismus. Zwischen dem, was er sagt und dem, was er tut, gibt es eine große Diskrepanz. In den Wahlen für die Nationalversammlung letztes Jahr bekam seine Partei nur sieben Prozent der Stimmen. Und im selben Jahr hat er die Bürgermeisterwahlen in Jerewan verloren. Pashinjan hat als Oppositioneller die Eurasische Union scharf kritisiert. Aber als er Premierminister wurde, hat er erklärt, dass es weiterhin eine Kooperation geben wird. Ich halte ihn nicht für glaubwürdig.

Als Premierminister hat er Verantwortung. Du bist noch sehr jung, Tatev. (lacht)

Ich glaube auch nicht, dass Paschinjan besonders schlau ist. Alles, was er hat, ist sein Populismus. Ein weiterer Grund für seinen Erfolg ist die armenische Mentalität. Die Armenier schieben die Verantwortung gern auf andere anstatt ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Jetzt haben sie Paschinjan ausgewählt, um ihre Probleme zu lösen. All ihre Hoffnungen ruhen auf einer Person. Das kann nicht gut gehen. 

Nicht immer einer Meinung. / Foto: Stefan Günther, n-ost
Nicht immer einer Meinung. / Foto: Stefan Günther, n-ost

Hakob, siehst Du eine Gefahr in der Popularität Paschinjans?

Ich glaube, die Revolution war erfolgreich, weil es der Wille des Volkes war, keine autokratische Führung zu haben. Aber es stimmt, nach der Revolution wurde Paschinjan extrem populär. Natürlich kann es eine Gefahr für die Demokratie sein, wenn das Volk einen Politiker zum Idol erklärt. Trotzdem muss man sagen, dass er sehr tolerant gegenüber seinen politischen Gegnern und Kritikern ist. Er gibt viele Live-Interviews und stellt sich den kritischen Fragen der Presse. 

Wie hat die Revolution eure Arbeit als Journalisten beeinflusst? Sind kritische Einschätzungen trotz all der Euphorie möglich?

Ja. In dieser Hinsicht hat sich nichts verändert. Und ich glaube auch nicht, dass sich etwas verändern wird. Es gibt Leute, die sagen, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen jetzt objektiver und transparenter ist, weil sie über Paschinjan berichten. Aber die armenischen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender machen das, was sie immer machen: Sie berichten über die Regierungsarbeit. Sie sind pro-Regierung. 

Aber vor ein bis zwei Jahren wäre man noch in Schwierigkeiten geraten, hätte man einen Oppositionspolitiker ins öffentlich-rechtliche Fernsehen eingeladen. Jetzt gibt es Talk-Shows und Nachrichtenberichte, in denen Oppositionelle vorkommen.

Ja, das stimmt. Da hat sich etwas verändert. Aber nicht die grundsätzliche Orientierung.  

Natürlich nicht. 80 Prozent der Berichterstattung sind über die Regierungsarbeit. Aber Journalisten müssen sich nicht mehr vor einer Bestrafung durch die Regierung fürchten. Man kann Kritik an Paschinjan üben und muss keine Konsequenzen fürchten. Jetzt gibt es Raum für kritische Berichterstattung. Medien können einen Einfluss auf das Geschehen ausüben und die neue Regierung hat das verstanden. 

Trotz Meinungsverschiedenheiten eine entspannte Gesprächsatmosphäre. / Foto: Stefan Günther, n-ost
Trotz Meinungsverschiedenheiten eine entspannte Gesprächsatmosphäre. / Foto: Stefan Günther, n-ost

Vor einigen Tagen ist Nikol Paschinjan als Premierminister zurückgetreten, um den Weg für Neuwahlen im Dezember frei zu machen. Wie wird es nun weitergehen?

Paschinjan wird die Wahlen gewinnen, da bin ich mir sicher. Ich glaube, die größte Herausforderung wird es sein es, die richtigen Spezialisten für die Regierung zu finden. Er braucht eine Menge qualifizierter Leute. Im Moment, kann er kaum etwas machen, weil er auf die Zusammenarbeit mit den anderen Parteien angewiesen ist und sie teilweise falsche Versprechen machen. Nach den Wahlen wird er die Möglichkeiten haben, die schlauen Köpfe des Landes in der Regierung zu sammeln.

Ich bin da leider nicht so optimistisch. Paschinjan sagt zum Beispiel: Wer uns nicht wählt, ist gegen die Revolution. Er teilt die Gesellschaft. Die Menschen wollen nicht zu einer Minderheit gehören, deswegen folgen sie ihm. Ich hoffe, dass die Menschen auch in der Zukunft ein kritisches Bewusstsein haben werden und ihm nicht einfach blind folgen. Und das wird nur durch ein gutes Bildungssystem möglich sein. Ich hoffe, dass sich dort etwas ändern wird.

Was erhoffst du dir von einer neuen Regierung unter Paschinjan, Hakob?

Ich bin schon zufrieden, dass wir es abwenden konnten, einen autokratischen Führer zu bekommen. Das ist ein tolles Ergebnis der Revolution. Ich hoffe, dass es nicht zu viel Unterstützung für Paschinjan in den Wahlen geben wird, sodass wir ein bipolares politisches System haben. Es war nicht gut für unser Land, nur eine Regierungspartei zu haben. Wir brauchen wieder Vertrauen in unser politisches System und in unser Rechtssystem. Aber ich glaube, wir müssen bis zu den nächsten Wahlen in fünf Jahren warten, um sagen zu können, ob die Revolution erfolgreich war.

Ich hoffe, ihr versteht mich nicht falsch. Ich wünsche mir natürlich, dass ich Unrecht habe und Paschinjan nicht der neue Pinochet Armeniens wird. Aber ich bin mir da nicht so sicher.

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