Ukraine

Granatensuche im Park

In der Ukraine ist der 17. November der Tag der Studenten. Obwohl offiziell kein arbeitsfreier Tag, fallen Lehrveranstaltungen in der Regel aus. Stattdessen versammeln sich die Studiengruppen bei Pizza, belegten Broten und reichlich Getränken in den für sie erschwinglichen Cafés und begehen ausgelassen ihren Feiertag.
Dieses Jahr haben viele ukrainische Studenten das fröhliche Beisammensein auf den Abend verlegt. Den freien Tag nutzten sie, um mit Kundgebungen und Protestaktionen den Rücktritt der gegenwärtigen Regierung, transparente Wahlen und die Freilassung ihrer inhaftierten Komilitonen einzufordern sowie dem oppositionellen Präsidentschaftskandidaten und Hoffnungsträger Viktor Juschtschenko ihre Unterstützung bei der Stichwahl am 21. November zuzusichern.

Relativ spät haben sich die ukrainischen Studenten zum Massenprotest gegen die amtierende Regierung und deren Präsidentschaftskandidat Viktor Janukowych sowie für die offene Unterstützung Viktor Juschtschenkos entschieden. Vereinzelten Aktionen im Sommer folgten erst im Oktober größere studentische Streiks und Demonstrationen. Den Auftakt gab ein am 16. Oktober in der Hauptstadt Kiew organisiertes Treffen mit Viktor Juschtschenko, an dem ca. 10.000 Studenten teilnahmen. Es verlief friedlich und ohne Zwischenfälle, es wurden aber Studenten aus anderen Städten der Ukraine an ihrer Anreise gehindert. Die Bahn verkaufte keine Fahrkarten nach Kiew mehr, die Polizei hielt mit Studenten gefüllte Busse auf, Rektoren setzten schnell Samstagsunterricht an oder verboten gleich die Teilnahme. In Donezk wurden Eltern mit der Begründung, die Opposition belüge die Studenten, aufgefordert, ihre Kinder nicht nach Kiew fahren zu lassen.

Solche Einschränkungen der politischen Meinungsfreiheit sowie die seit Anfang Oktober verstärkt vorgenommenen Hausdurchsuchungen bei Nichtregierungsorganisationen und Verhaftungen politisch engagierter Jugendlicher wegen vermeintlichen Besitzes von Falschgeld und Sprengstoff veranlassten die Studenten landesweit zu Kundgebungen und Protestumzügen. Im westukrainischen Lwiw (ehemals Lemberg) versammelten sie sich erstmals am 26. Oktober, fünf Tage vor dem ersten Wahldurchgang, unter dem Motto „Es ist Zeit, Widerstand zu leisten. Für das Leben in einer sauberen Ukraine“ vor dem Rathaus. In Sprechchören riefen die ca. 5000 Streikteilnehmer Formeln wie diese: „Nein zu politischen Repressionen“, „Gemeinsam sind wir stark“, „Pfui, Schande“ oder „Verbrecher in den Knast – Freiheit den Studenten“. Unterstützung erhielt die Lwiwer Jugend vom gleichzeitig tagenden Stadtrat. In einer vom Sprecher des Stadtrates vorgelesenen Ansprache kritisierten auch Abgeordnete die fingierten Beweise gegen inhaftierte Studenten und bezeichneten die Verhaftungen als staatliche Willkür mit dem Ziel, die Bevölkerung einzuschüchtern.

Unmittelbar nach dem ersten Wahldurchgang am 31.Oktober, bei dem Oppositionskandidat Juschtschenko 0,5% der Stimmen mehr erhielt als der regierungstreue Janukowych, setzten die Studenten ihre Aktivitäten fort. Sie fuhren in südliche und östliche Regionen, um dort über das Wahlprogramm der Opposition sowie die Verbrechen der gegenwärtigen Regierung aufzuklären. Denn in diesen Regionen dominieren von Premierminister Janukowych und Präsident Kutschma kontrollierte Medien, die Juschtschenko als nazistischen Politiker, der die Ukraine an den Westen verkaufen wird, diffamieren.

Orange ist die Farbe der Hoffnung auf Veränderung - an Taschen, Handgelenken oder im Haar befestigt kündet sie von Sympathie für politische Erneuerung. Sie ist auch dort allgegenwärtig, wo sich gegenüber der Lwiwer Universität, am Denkmal eines der größten ukrainischen Denker Iwan Franko, Studenten symbolisch Barrikaden errichtet haben. Eine kleine Gruppe hält dort Mahnwachen, es versammeln sich vor allem Studenten zu Protestaktionen. Dass sie ihren Humor nicht verloren haben, zeigten die Lwiwer mit einem Spiel, dass die Lächerlichkeit der polizeilichen Hausdurchsuchungen thematisierte. Zwei Mannschaften zu je zehn Personen hatten die Aufgabe, in den Büschen des angrenzenden Parks Granaten zu suchen. Als Granaten dienten Zitronen, als Sieger galt die Mannschaft, die die meisten Zitronen gefunden hatte.


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