Bosnien-Herzegowina

Lebenslänglich: Bosnien leidet weiter unter Karadzic-Verbrechen

EnglishDeutsch
An dem Tag, an dem Radovan Karadzic verurteilt wurde, sitze ich hinter Fatima Husseinovic, einer rüstigen 73-jährigen Frau, die sorgfältig in einen schwarzen Mantel und blauen Schal gehüllt ist. Zusammen mit über hundert Menschen - Kriegsopfern, internationalen Pressevertretern und Studenten - schauen wir uns im Atrium des Rathauses von Sarajevo die Live-Übertragung aus Den Haag an.

Die Atmosphäre im Saal ist still, kaum jemand spricht. Draußen ist es kalt, und bevor das Urteil verlesen wird, zeigt das Fernsehen Szenen aus dem Krieg, Bilder von der Zerstörung des Rathauses während der Belagerung von Sarajevo - und Aufnahmen von Karadzic.


Husseinovic lebte während des Krieges in Srebrenica und verlor die Männer in ihrer Familie durch den Völkermord. Als sie später ein Fernsehinterview gibt, zittert sie.

„Ich fühlte mich, als könnte ich einfach wegfliegen“, sagt sie.

Zwei Tage später, unweit des durch Sarajevo fließenden Miljaka, treffe ich in einem Café Gorcin Dizdar, jung und im Ausland ausgebildet, Enkel des berühmten jugoslawischen Dichters Mak Dizdar. Seine Familie war während der Belagerung gerade noch so aus Sarajevo entkommen, bevor serbische Soldaten nach ihnen suchten. Ihr Haus, und alles, was darin war, verloren sie – einschließlich der jugoslawischen Gemälde, die seinem Großvater gehörten.

Für Dizdar war es im Gegensatz zu Husseinovic schwer, bei der Urteilsverkündung überhaupt etwas zu spüren. „Ob Karadzic sein Leben im Gefängnis verbringt oder stirbt ist mir egal“, sagt er.

Für die internationale Gemeinschaft war die endgültige Verurteilung von Karadzic, dem Kriegsverbrecher und Führer der bosnischen Serben während des Bosnienkriegs, ein Triumph der internationalen Gerechtigkeit. Der „Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien“ war einer der ersten seiner Art nach Nürnberg. Das Urteil vom vergangenen Mittwoch ist der Höhepunkt einer über zwei Jahrzehnte währenden Faktenfindung und Abwägung von Zeugenaussagen.

Doch auf den Straßen Sarajevos, wo die Gebäude immer noch mit Kugeln übersät sind und Ranken durch die Hüllen verlassener Gebäude klettern, bleibt es weiterhin uneindeutig, was genau das Urteil für die Menschen hier bedeutet und ob es ihnen echte Erleichterung bringt.

Der Krieg ist noch immer präsent: Überbleibsel einer Granate erinnern an die Explosion auf den zentralen Marktplatz, rote Schilder auf dem Olympiaberg Trebevic warnen vor Landminen, Kraterlandschaften alter Betongebäude, Wohnungen und Krankenhäuser erinnern an das Ausmaß der Zerstörung.

Der Krieg lebt weiter in der Erinnerung, nicht nur als Zeit des Traumas, sondern auch als Lebenszeit. In den Kriegsgeschichten über Hunger, den Kriegsgeschichten von Müttern, die die Belagerungslinien überqueren, um Mehl zu kaufen, den Kriegsgeschichten von Menschen, die während der Bombardierung Marihuana auf ihren Dachböden rauchen.

Doch während die Menschen ihre Kriegsgeschichten wieder und wieder erzählen - in der Küche, während der Zigarettenpause -, sagen viele, dass sich das Tribunal nicht wie etwas anfühlt, das mit dem verbunden ist, was sie erlebt haben.

Für Dizdar liegt das an der Unerbittlichkeit, mit der nationalistische Politiker das Gerichtsverfahren zu ihrem politischen Vorteil manipulieren. Serbische Politiker, sagt er, erkennen immer noch nicht an, dass ein Völkermord in Srebrenica oder an anderen Orten in Bosnien stattgefunden hat. Das käme dem Zugeständnis gleich, dass die Republika Srpska - die ethnische Entität der Serben in Bosnien - durch ein Massaker entstanden ist.

Dass der Gerichtshof den Völkermord nur in Srebrenica feststellte, während in ganz Bosnien Muslime ermordet wurden, hält Dizdar für absurd.

„Es war Genozid im Ganzen oder Genozid nirgendwo. Man kann Völkermord nicht nur in einer Stadt haben. Wenn man zum Beispiel im Falle Deutschlands sagen würde: „Oh, der Holocaust fand nur in den Konzentrationslagern statt, aber nicht in der Ukraine... Die Absicht kam doch nicht an nur einem Ort zu tragen.“

Für Dizdar und viele andere ist die Diskussion darüber, ob ein Verbrechen „Völkermord“ war oder nicht, eine Abstraktion, die weit entfernt von dem ist, was sie durchlebt haben.

Als ausländische Reporterin auf dem Balkan ergibt die Distanzierung Dizdars von dem Urteil für mich Sinn. Für viele Touristen und Neuankömmlinge fühlt sich Bosnien wie ein harmonischer Ort an. Aber meine Zeit hier wird immer wieder durch Momente der Spannung erschüttert, die unter der Oberfläche brodeln. 

Im vergangenen Herbst, in der Nähe der Stadt Jablanica, mussten Freunde und ich eine halbe Stunde lang im Auto warten, weil neonazistische kroatische Fußball-Hooligans randalierten, Feuerwerke warfen und auf einer Brücke kämpften. In der Woche vor der Verkündung des Karadzic-Urteils wurde ein Mann, der in der Republika Sprska eine bosnischen Flagge mit sich trug, öffentlich verprügelt.

Momente wie diese erinnern mich daran, dass hier so vieles im Argen liegt, über das noch nicht gesprochen wurde. Dizdar sagt, dass das Urteil „symbolisch“ ist und dass Karadzics Ideologie gewonnen hat –auch wenn er ins Gefängnis muss.

Jenseits der Grenze, in Belgrad, sagt Marko Milosavljevic, dass die Debatte über Karadzic ähnlich manipulativ verläuft. Wie Dizdar ist er der Überzeugung, dass eine humane Diskussion über den Krieg und seine Opfer noch immer fehle und dass das Gericht und die Politiker zu weit von den Erfahrungen der Menschen entfernt seien. Die Menschenrechts-NGO von Milosavljevic ist eine der wenigen Stimmen in Serbien, die dazu aufrufen, die Kriegsverbrechen und den Völkermord in Srebrenica anzuerkennen.


„Wir müssen die Fakten aus dem Urteil bestätigen und einen echten Prozess des Umgangs mit diesen Fakten einleiten. Nicht nur in Bosnien, auch in Serbien.“

Eine Person sorgte dann doch noch dafür, dass die Stimme der Opfer am Tag von Karadzics Verurteilung gehört wurde. Adam Sabanovic, einer der Männer, die Srebrenica überlebt haben, stürmte ins Rathaus, als Karadzics Anklagepunkte vorgelesen wurden. Mit hochroten Kopf fing er an zu schreien, heiser, immer und immer wieder: „Lebenslang!“

An seinem Revers steckt eine weiße Blume mit einer grünen Mitte. Es ist das Symbol von Srebrenica.

Später sagt er zu Reportern: „Das war nicht mein Schrei, sondern der Schrei aller Opfer, derjenigen in den Gräbern von Prijedor bis Bratunac und Sarajevo und ganz Bosnien.“


Übersetzung: Fritz Tudyka, Christian-Zsolt Varga

Weitere Artikel