Streiks und Protest in der Westukraine
Viele Geschäfte im westukrainischen Lwiw (Lemberg) sind seit dem Ende der Stichwahl um das ukrainische Präsidentenamt geschlossen. Eilig angebrachte Zettel künden vom „Generalstreik für Juschtschenko“. Sie machen deutlich, welche Hoffnungen die Westukraine mit dem Kandidaten der Opposition verbindet. Bevor Wiktor Juschtschenko am Mittwoch selbst zum Generalstreik aufrief, um gegen mögliche Wahlmanipulationen zu protestieren, haben seine Anhänger in Lwiw Fakten geschaffen. Nur in den Stoffläden herrscht Hochbetrieb: Alle Sorten von Bändern wurden verlangt, Hauptsache orange, die Farbe der Oppostion.
Seit am Montag die vorläufigen Wahlergebnisse durch die Zentrale Wahlkommission bekannt gegeben wurden, hat sich der zentrale Prospekt svobody (Freiheitsboulevard) in Lwiw von einer Flaniermeile zum Zentrum des Protestes verwandelt. Demonstriert wird gegen die offensichtlichen Wahlmanipulationen, die auch von internationalen Organisationen wie der OSZE kritisiert werden. Obwohl nach den Hochrechnungen im Vorfeld der Wahl auf Juschtschenko mehr als 50 Prozent der Stimmen entfielen, hat die Wahlkommission den pro-russischen und regierungsfreundlichen Viktor Janukowitsch zum Wahlsieger gekürt.
Viele Westukrainer hat dies auf die Barrikaden getrieben: Mit Rufen wie „Kutschma weg“ und „Ja, Juschtschenko“ fordern die Streikteilnehmer die offizielle Bestätigung Juschtschenkos als neuen Präsidenten der Ukraine. „Wozu das Engagement in den Wahlbüros und die vielen Wahlbeobachter, wenn wir jetzt betrogen werden sollen?“, fragen sich etwa Olha und Andrij. „Durchhalten, bis wir unser Ziel erreicht haben, aber auf vernünftigem Wege“ will das Unternehmerehepaar. Einen Bürgerkrieg können sie sich nicht vorstellen. Der Taxifahrer Jaroslav dagegen sagt: „Wenn es sein muss, werde ich auch mit Waffen für unser Recht kämpfen.“
Die Lwiwer haben den Stadt- und Gebietsrat und auch viele Beamte auf ihrer Seite. Angst vor Kündigungen gibt es nicht. „Es sind so viele Kollegen auf der Straße, die können nicht alle entlassen werden.“ Sogar der Rektor der Lwiwer „Iwan Franko“-Universität rief die Einwohner der Stadt zum Streik auf. Seit Montag finden an der Universität keine Lehrveranstaltungen mehr statt.
Weniger einig sind sich die Menschen im südwestukrainischen Czernowitz, wo anders als in Lwiw viele russisch-sprachige Ukrainer zu Hause sind. In der bisher eher ruhigen Stadt herrscht eine bemerkenswert aufgeheizte, politisierte Atmosphäre. Diskutiert wird durch alle Alters- und Bildungsschichten hindurch. Anders als in Lwiw stimmten hier mehr als 20 Prozent der Wähler für den Regierungskandidaten Wiktor Janukowitsch.
„Ich bin gegen Juschtschenko“, sagt etwa die Doktorandin Nastja, die sich nicht am Streik beteiligt. „Die Ukraine braucht die wirtschaftliche Union mit Russland. Gas, Öl, Strom. Die Ukraine lebt davon“. Dies alles sei durch einen Sieg der der pro-westlichen Opposition gefährdet. Nastja zweifelt daran, dass die EU etwas für die Ukraine tun wird. „Sie ist doch nur auf Profit aus. Klar, Russland ist auch am Profit interessiert. Aber wenn ich entscheiden könnte, ob eine Firma z. B. an Amerika ginge oder an einen ukrainischen Oligarchen fiele, dann lieber an den Oligarchen.“
Zwar fühle sich Nastja nicht bedroht, doch hält sie sich lieber bedeckt mit ihrer Meinung. Knapp über 70 Prozent der Stimmen für Juschtschenko in Czernowitz schüchtern sie ein. „Man muss die Meinungsfreiheit hier in der Ukraine weiter entwickeln. Demokratie kann man lernen, aber das braucht Zeit“, sagt Nastja. Die Zeit für eine stärkere Bindung an die EU und westeuropäische Gesellschaftsformen sei noch nicht gekommen.
Auch der Zentralplatz von Czernowitz leuchtet seit dem Ende der Wahl in Orange. Zeitweise fasste er kaum noch alle Protestierenden – darunter viele Studierende, aber auch Schüler, Taxifahrer, Professoren und Fabrikarbeiter. Aber „wir wissen nicht, wie lange die Leute durchhalten.
Es ist Winter, es ist kalt. Ich weiß nicht, ob der Atem langt, um etwas zu bewirken“, ist die junge Olga besorgt, die hier für Juschtschenko protestiert. Noch zeigen die Czernowitzer Protestierenden keine Ermüdungserscheinungen, trotz Temperaturen um den Gefrierpunkt.
„Viel hängt auch davon ab, ob die lokalen Autoritäten mit uns oder gegen uns arbeiten.“, betont ein Student. Auf die Unterstützung des Rektors können die Streikenden auf jeden Fall zählen, er hat sich mit unter die Protestierenden gemischt. Bereits vor dem ersten Wahldurchgang verweigerte er seine Unterschrift auf einer Verpflichtungserklärung pro Janukowitsch, die allen Rektoren der Ukraine von der Regierung zugeschickt worden war.
Im transkarpatischen Uzhorod, wo es zur slowakischen EU-Außengrenze näher ist als zu jeder größeren ukrainischen Stadt, wird dagegen Druck auf protestierende Studenten ausgeübt. Die Hochschullehrer wurden angehalten, ihren Unterricht zu halten und die Namen fehlender Studenten gewissenhaft zu notieren. Trotz Streikverbot versammelten sich am Dienstagmorgen viele Studenten in der Eingangshalle der Universität und forderten ihre Dozenten auf, sich dem Streik anzuschließen. Der Lehrstuhl für Politologie und später auch die Lehrkräfte der historischen Fakultät solidarisierten sich mit den Studenten, die Mehrzahl der Dozenten jedoch blieb in der Universität.
Die Studenten begaben sich in einem Protestzug ins Stadtzentrum, wo sie zunächst vor dem Rektoratsgebäude hielten und den Rektor zu einer Stellungnahme aufforderten. Da er jedoch Wahlfälschungen nicht bestätigen wollte, ließen sie ihn nicht zu Wort kommen. Später fand eine Kundgebung auf dem Theaterplatz statt. Zeitweise versammelten sich mehr als 10.000 Menschen, seit der Unabhängigkeit der Ukraine die größte Versammlung in der transkarpatischen Stadt.
Die Uzhoroder Studenten haben neben den Wahlmanipulationen in der Ukraine noch einen weiteren Grund zum Streik: „Wir wollen wissen, wer unseren vorherigen Rektor ermordet hat.“ Dieser war im Mai tot in seiner Wohnung aufgefunden worden. Offizielle Stellen sprachen von Selbstmord. Viele Uzhoroder sagen, „es war Mord.“ Denn ihr ehemaliger Rektor engagierte sich in der Oppositionsbewegung Juschtschenkos. Der neue Rektor übte seit Beginn des Studienjahres enormen Druck auf Lehrer und Studenten aus, für Janukowitsch zu stimmen.