Ukraine

Charkiw bekennt Farbe

„Wir haben jetzt drei Präsidenten und ich verstehe gar nichts mehr.“ Swetlana M., 62jährige Rentnerin aus Charkiw ist von den Ereignissen in ihrer Heimatstadt überrascht und überfordert. Auf dem Platz der Freiheit, der gern als der zweitgrößte Platz der Welt ausgewiesen wird, versammeln sich seit fünf Tagen Menschmassen, die sich wie bei einem Fußballspiel auf zwei Teams verteilen.

Seit dem Ausgang der Stichwahl in der Ukraine, bei der der Regierungskandidat Wiktor Janukowitsch nach Angaben der Zentralen Wahlkommission angeblich über Oppositionsführer Wiktor Juschtschenko gesiegt haben soll, wird auch in Charkiw demonstriert. Für wen? Für beide. Zu Füßen des Lenin-Denkmals stehen die Menschen in Orange, der Farbe der Opposition. Am anderen Ende des Platzes vor dem Rathaus demonstrieren Menschen in Blau für Janukowitsch. Doch Orange ist eindeutig in der Überzahl.

Charkiw ist mit 1,4 Millionen Einwohner die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Sie liegt im Osten an der Grenze zu Russland. Hier, unter den mehrheitlich russisch-sprachigen Ukrainern, die anders als die ukrainisch-sprachigen Westukrainer für eine enge Anbindung an Russland eintreten, soll Regierungskandidat Wiktor Janukowitsch seine Hochburgen haben. Dennoch musste das Janukowitsch-Lager bei der Stichwahl am vergangenen Sonntag kräftig nachhelfen. In einigen Wahllokalen erhielten Janukowitsch-Wähler 20 Griwna, eine Flasche Wodka und Nahrungsmittel. Für einen Rentner ist das mehr als eine übliche Wochenration.

In Studentenwohnheimen eingerichtete Wahllokale verweigerten Juschtschenko-Anhängern mehrfach den Zutritt oder schickten diese mit der Begründung nach Hause, es gäbe keine Stimmzettel mehr. Erst der Dekan der Fakultät, ebenfalls Juschtschenko-Befürworter, aber auch angesehener Bürger, konnte durch sein Erscheinen den Studenten die Stimmabgabe ermöglichen. Dennoch vermutet man, dass mehr als 100.000 wahlberechtigte Bürger nicht abstimmen durften, weil ihre Passdaten mit den Angaben in den Wählerlisten nicht übereinstimmten.

Und dennoch, Charkiw schien die ganze Zeit über ungerührt von dem offensichtlichen Wahlbetrug. Die Stadt strahlte sogar eine gewisse Atmosphäre der Gleichgültigkeit aus. Keine Farbauffälligkeiten. Kein großer Kampfgeist in politischen Gesprächen der Bevölkerung. Aljona S., Dozentin der Karasin-Universität, meinte vor der Stichwahl: „Welche Wahl haben wir denn? Doch nur die zwischen dem kleineren und dem größeren Übel.“

Als die offiziellen Ergebnisse der Stichwahl bekanntgegeben werden, lautet das Ergebnis im Charkiwer Gebiet 70,25 Prozent für Janukowitsch. Ein eindeutiges Ergebnis also. Unmittelbar danach füllt sich der Platz der Freiheit. Aber nicht zur Feier des triumphalen Sieges von Wiktor Janukowitsch. Nein: Der Platz füllt sich mit Juschtschenko-Anhängern, größtenteils Studenten, Arbeitern, Rentnern. Hunde und Kinder, sogar Kinderwägen sind mit orangefarbenen Bändern und Wimpeln versehen. Es werden Zelte aufgebaut und der lokale Supermarkt „Wostok“ versorgt die Demonstranten mit Nahrungsmitteln. Auch Privatpersonen geben ihr weniges Geld aus, um den Juschtschenko-Anhängern Nahrungsmittel zu bringen.

Kurz darauf ergeht in der Karasin-Universität die Anweisung, die Dozenten mögen ihre Studenten auf den Platz schicken, damit diese für Janukowitsch demonstrieren. Nach einer halben Stunde wird die Anweisung zurückgenommen.
Dennoch finden sich einige Anhänger, die für den Regierungskandidaten auf die Straße gehen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes der Freiheit nehmen sie Aufstellung. Es werden blau-weiße Buden aufgebaut, eine Bühne,
Lautsprecher. Durch die ganze Stadt fahren Kleinbusse und rufen die Bevölkerung dazu auf, für Janukowitsch zu demonstrieren. „Wir sind ein freies Land, wir haben ein freies Mikrophon. Jeder Bürger darf sprechen.“, rufen sie aus.

Es kommen nur wenige. Die die kommen, wirken als seien sie zufällig auf dem Nachhauseweg hier vorbeigekommen, manche bleiben ein paar Minuten, hören sich die Reden an und gehen. Auf der gegenüberliegenden Seite hält man mit Juschtschenko-Rufen und Gesängen dagegen.

Während des ganzen Wahlkampfes haben die stattlichen Fernsehsender den Oppositionskandidaten als Faschisten und Feind Russlands gebranntmarkt. Bei einigen hat das Wirkung erzielt: „Ich bin für Janukowitsch. Ich will keinen
Faschisten als Präsidenten. Ich habe einen erwachsenen Sohn, er studiert und er hat mir erzählt, dass es eine Lüge sei, dass die Studenten Charkiws für Juschtschenko seien!“ brüllt eine etwa 50jährige Charkiwerin ins Mikrophon. Gleichzeitig skandieren unzählige Studenten von der orangenen Seite „Juschtschenko“ zurück.

Immer wieder wird davon berichtet, dass Betriebe ihre Angestellten dafür bezahlen, dass sie für Janukowitsch demonstrieren. In Charkiw wie in der anderen ostukrainischen Millionenstadt Dnipropetrowsk soll man Studenten gezwungen haben, für Janukowitsch auf die Straße zu gehen und gleichzeitig mit Exmatrikulation gedroht haben, falls man sie in Orange vorfinden sollte.

In der Kleinstadt Slowjansk hat die Polizei an der Universität überprüft, ob alle Studenten anwesend sind und niemand unerlaubter Weise nach Kiew gefahren ist. Charkiws Stadtrat bat Kiew inzwischen offiziell, um eine erneute, korrekte Auszählung der Stimmen, in der Hoffnung, dass sich die Lage dadurch normalisiert. Die Opposition deutet dies als Eingeständnis stattgefundener Wahlfälschungen.

Friedlich demonstrieren die beiden Gruppen hier in Charkiw nebeneinander, dazwischen eine Linie von Polizisten, doch außer Frieren haben die Polizisten nichts zu tun. Von den Juschtschenko-Anhängern bekommen sie orangene Chrysanthemen geschenkt. Die halbe Stadt kleidet sich in Orange. Der Schewtschenko-Park und das Schewtschenko-Denkmal sind mit orangenen Bändern verziert. Geschäfte haben orangene Fahnen in ihren Fenstern und auf dem großen Lenin-Prospekt, einer der Hauptstraßen Charkiws, steht auf dem Bürgersteig in orangener Schrift: „Kämpft für Juschtschenko!“ Seit Tagen hält die Kälte die Charkiwer nicht vom Demonstrieren ab, Menschen aller Schichten und allen Alters sind vertreten.

Dass sich Charkiw in dieser Größenordnung zu Juschtschenko bekennt, ist überraschend. Die Ostukraine, so heißt es in den meisten Berichten, ist Janukowitsch-treu. Deshalb ist die Stadt ein leuchtendes Beispiel und zugleich ein eindeutiger Hinweis darauf sein, dass nicht nur die Westukraine hinter Juschtschenko steht und dass das offizielle Wahlergebnis von 70 Prozent für Janukowitsch eine Farce ist.

Verunsichert sind davon wohl auch die Janukowitsch-Redner, ob bezahlt oder nicht. So ertönte während einer der Kundgebungen auf der blau-weißen Seite der Ruf: „Für Juschtschenko! - Äh - Für Janukowitsch!“ Und für einen kurzen
Moment hatten auf dem Platz alle etwas gemeinsam: Einen Anlass zum Lachen in dieser Zeit der Ungewissheit.


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