„Es gibt kein Zurück mehr“
Es ist wieder kälter geworden. In der westukrainischen Stadt Czernowitz zeigen sich nach langen Tagen des Protestes erste Ermüdungserscheinungen. Der Zentralplatz ist noch immer Drehscheibe der Demonstrationen gegen den vermeintlichen Wahlsieger Wiktor Janukowitsch. Von hier zieht sich die Farbe Orange wie ein Flächenbrand durch die Stadt. Leuchtete in den ersten Tagen lediglich der kleine Stoffladen an der Ecke, als Bänder und Streifen meterweise über den Tresen wanderten, so strahlt jetzt das ganze Zentrum der ehemaligen K.u.K-Stadt in der Westukraine apfelsinenfarben. Vom Wiener Café in der alten Herrengasse bis zum letzten Obst- und Gemüseladen im Keller am Stadtrand: an orange kommt niemand mehr vorbei.
An den Demonstranten schon. Mussten sich Dienstag noch die Trolleybusse durch ein Meer von Menschen arbeiten, so müssen sich heute wieder die Leute auf der Straße vor den Trolleybussen in Acht nehmen. Die Cafés rund um den Rathausplatz sind prall gefüllt, drinnen ist es wärmer als draußen und den Kehlen scheint die kalte Luft auch nicht so gut getan zu haben. Die Rufe nach dem neuen Präsidenten Wiktor Juschtschenko werden leiser. Andere wieder lauter: „Die Hysterie nervt!“, sagt die Studentin Olga, die ihre Arme vor der Brust verschränkt. „Mir ist die ganze Aufruhr zuwider“, sagt sie, während sie mit einem Ruck den Reißverschluss ihrer Jacke zuzieht und sich auf den Weg nach Hause macht, wo sie die Tür fest hinter sich zuziehen kann.
Auch in der Universität sind viele Türen geschlossen, aber aus einem anderen Grund. Seit letztem Donnerstag ist die Hochschule im Generalstreik. „Eigentlich fängt jetzt die Vorprüfungszeit an, aber manchmal gibt es eben wichtigeres“, strahlt Natascha, während sie mit roter Nase und orangenem Stirnband unermüdlich ihre Fahne auf dem Zentralplatz vor dem Rathaus schwingt.
Die sonst eher behäbige, bürokratische Stadt Czernowitz überraschte mit ungeahnten Organisationsfähigkeiten. In der Universität wurden Notstundenpläne entworfen, Streikkomitees gebildet, in der Stadt Sammelstellen für Nahrungs- und Kleiderspenden ausgerufen, Sammeltransporte nach Kiew organisiert. Noch gestern brachen von der Universität organisierte Busse nach Kiew auf, bis auf den letzten Platz mit Studierenden aller Fakultäten gefüllt, um ihre Kollegen auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew mit ihrem Protest zu unterstützen.
Aber auch in Czernowitz wurden unerschrocken Heringe in Zeltschlaufen geschlagen und ein Zeltlager im Zentrum der Stadt aufgebaut. Die Zelte stehen nach dem ersten Schnee nun im Schlamm. Tauwetter, das wieder umschlägt. Auf den Planen liegt Frost. Nachts hilft Wodka gegen die Kälte.
Doch trotz aller Widrigkeiten, trotz des beginnenden Schwundes der Massen, ist etwas gewachsen unter den Menschen. Zwischen Schnee, Winterstiefeln, Mützen und Fahnen hat sich beinahe unmerklich eine Form hartnäckigen Widerstands gebildet, die nicht mehr nur über ein bestimmtes Menschenaufkommen auf Plätzen messbar ist: „Wir werden nicht aufgeben. Dafür ist es nun zu spät, die Uhren können nicht mehr zurückgedreht werden“, sagt die junge Lena, während sie eine Zigarette aus der Schachtel zieht und von der hohlen Hand geschützt ein Streichholz entzündet, so das es kurz hell aufglüht.
Man nennt es das Schneeballprinzip: Die Demonstrationen in der Öffentlichkeit, auf den Straßen, vervielfachen sich nun im Alltag. Wie selbstverständlich hat der Kellner hinter der Theke des Wiener Cafés das orangene Band zur Krawatte gebunden. Gekellnert wird weiter, Kaffee getrunken auch. Die Form bleibt gewahrt und doch ist alles anders. Die Wucht des Protests und die Überraschung der Leute über sich selbst, schlägt sich nieder. Oleg, Doktorand der Medizin, verrührt den Zucker in seiner Tasse Espresso und schüttelt den Kopf: „Bisher habe ich mich nie für Politik interessiert, sondern nur für den Brustkrebs. Wenn ich jetzt nach Hause komme, schalte ich sofort den Fernseher an, um Nachrichten zu schauen.“
Trotz Ermüdungserscheinungen in der Provinz bleibt es lebendig in Kiew. Wie wichtig nach wie vor die Menschen auf der Straße sind, zeigen die neusten politischen Entwicklungen: Nachdem gestern die Verhandlungen mit der Regierung von Seiten der Opposition abgebrochen wurden, ist Janukowitsch heute vom Parlament, das endlich über die nötige Anzahl Stimmberechtigter verfügte, quasi „entlassen“ worden, ein Schritt nach vorn für die Demonstranten. Der noch amtierende Präsident Leonid Kutschma ist aufgefordert, diese Entscheidung zu ratifizieren. Ob das geschehen wird, hängt nicht zuletzt auch von den normalen Menschen in Czernowitz ab.