Ukraine

Der Mythos Blau

Es ist der wohl farbenfroheste November in der Ostukraine. Die Städte Sumy, Poltawa, Charkiv und Dnipropetrowsk sind idyllisch verschneit und weit entfernt von den orangenen Städten der Westukraine und ohnehin ist der Osten russlandorientiert und blau. Zumindest hatte man das erwartet und glaubt auch noch immer daran. Doch die Ostukraine kann in diesen Tagen die Welt überraschen: Der Osten trägt Orange.

Seit den Stichwahlen am 21. November ist auch hier die Stimmung umgeschlagen und vorallem der Mut gewachsen, sich zu Orange zu bekennen. Der Osten geht für Juschtschenko auf die Straße. So selbstverständlich wie im Westen der Ukraine ist das nicht. Denn viele der leitenden Posten im Osten sind von Janukowitsch-Anhängern besetzt, die den orangenen Bestrebungen doch lieber entgegenwirken möchten.
Oppositionelle Kanäle in Radio oder Fernsehen sind nicht überall zu empfangen, man sieht die regierungstreuen Sender und hört dort, dass in Kiev kostenlos Drogen verteilt würden, damit die Leute auf der Straße bleiben.

Im Osten existiert in vielen Köpfen die Befürchtung, Juschtschenkos Amtsübernahme hätte den Verlust jeglicher Kontakte zu Russland zur Folge. „Ich habe dort doch meine Verwandten.“ ist ein Satz, den man immer wieder hört. Und dennoch: Es gibt viele, die sich nicht von Angst leiten lassen, sondern von Mut. In Poltawa, einer Juschtschenko-orientierten Kleinstadt mit einem Janukowitsch-treuen Bürgermeister hat man seit einer Woche vor der Gebietsverwaltung eine Zeltstadt aufgebaut. Jeden Tag versammeln sich hier die Bewohner der Stadt. Die Angestellten im Gebäude scheinen aber verschwunden. Seit einer Woche keine Sprecher des Bürgermeisters, keine offiziellen Informationen dringen aus dem Gebäude. Die Universität streikt inoffiziell. Und auf dem Markt liegen mit orangenem Band verzierte Weißkrautköpfe.

Auch Sumy, Gebietshauptstadt im Nordosten der Ukraine, ist orange. Vor der Wahl hingen auf den Wäscheleinen auffällig viele orangenen, frisch gewaschenen Bettlaken und Kopfkissen. Schaufensterpuppen tragen orange. Und die Universität hat seit einer Woche Weihnachtsferien, damit Dozenten und Studenten demonstrieren gehen können. Auch ortsansässige Unternehmensleitungen sagen ihren Arbeitnehmern durch die Blume, dass sie doch streiken sollen. Auch in Charkiv gewinnt die Zeltstadt auf dem zentralen Platz an Zelten mit Schildern, auf denen Universität und Fakultät der „Camper“ vermerkt ist.

Dozenten werden mutig und äußern sich im Unterricht zur Lage, so Alexej K. in Charkiv: „Ich bin nicht für Juschtschenko, er ist nicht die beste Wahl. Aber es kann und darf nicht möglich sein, dass wir einen Mann zum Präsidenten haben wollen, der zweimal im Gefängnis gesessen hat. Das wirft das Land in seiner Entwicklung um Jahrzehnte zurück. Es kann und darf nicht sein, dass wir Janukowitsch unterstützen.“
Eine neue Art der Demonstration hat sich in den letzten Tagen herausgebildet: Auto-Demonstrationen.

Inbesondere in Dnipropetrowsk, eine Großstadt, die laut Zentraler Wahlkommission mit 63,6 Prozent für Janukowitsch abgestimmt hat, veranstaltet seit Tagen täglich Auto-Korsos. Auch öffentliche Verkehrsmittel werden von orangenen Bändern verziert. Studenten tragen orange trotz der im Raum stehenden Drohung der Exmatrikulation.
Auf dem Leninplatz findet man auch hier eine Zeltstadt, die täglich wächst. Und selbst Obst verliert seine politische Neutralität: Man verteilt Mandarinen an Passanten und Teilnehmer der Demonstrationen.
In alles Städten verlaufen die Demonstrationen friedlich, ohne Alkohol und Provokationen von der orangenen Seite aus.

Was ein wenig fehlt, ist, dass der Osten diese orangenen Erscheinungen in der Ostukraine wahrnimmt und anerkennt. Der Westen muss dem Osten zeigen, dass er diesen Ernst nimmt, damit man hier nicht den Mut verliert. Denn im Fernsehen sieht man nichts von diesen Städten, allenfalls die organisierten blauen Gegendemonstrationen, was den alten Glauben vom blauen Osten weiter manifestiert, dem Westen die Hoffnung auf Unterstützung aus dem Osten und dem Osten den Glauben an den Sinn ihres Mutes nehmen soll.
„Wir sind ein Volk!“ ist hier keine inhaltsleere Phrase mehr, aber noch nicht alle Ukrainer haben das erkannt.


Weitere Artikel