Empörung über das neue Archivgesetz
von Vivi Bentin (Mail: vivster@gmx.de, Tel: +49.(0)431.2599644; +49.(0)170.9868047)
Vilnius (n-ost). „Warum genau das so ist, wissen wir nicht“, zuckt Arvydas Anusauskas mit den Schultern. „Es heißt, dass wir sonst nie mit unserer Geschichte und der früheren Existenz des Sowjetsystems klar kommen“. Der leitende Mitarbeiter des „Zentrums zur Erforschung von Genozid und Widerstand in Litauen“ kann selbst nicht glauben, dass das neue Dokumenten- und Archivgesetz nun am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist. Danach werden sämtliche in Litauen aufbewahrte Akten des KGB und anderer sowjetischer Geheimdienste für 70 Jahre nach ihrem Entstehungsdatum unter Verschluss gehalten. Das heißt, dass selbst die ältesten Dokumente aus der ganz frühen Besatzungszeit der 40er Jahre in frühestens fünf Jahren der Öffentlichkeit preisgegeben werden dürfen.
Der Archivexperte ist auch persönlich von dieser neuen Regelung betroffen: Bisher verwaltete sein Zentrum einen Teil des Sonderarchivs mit Dokumenten von KGB, Innenministerium und Kommunistischer Partei. Diese Aufgabe ist jetzt komplett an die Archivabteilung der Regierung übergegangen, die laut Anusauskas „keinen Einfluss von außen“ wünsche. „ich habe keine Spionage-Manie, aber das neue Gesetz tut vor allem Russland einen Gefallen“, meint Anusauskas.
Lautstarke Schützenhilfe erhält der Wissenschaftler inzwischen von liberaldemokratischen Oppositionspartei. In einer Mitteilung an den litauischen Präsidenten Valdas Adamkus heißt es, das neue Gesetz schade nicht nur der Aufarbeitung der Geschichte, sondern auch der weiteren Entwicklung des Staates. „Die Gesellschaft hat ein Recht, die Wahrheit über die Vergangenheit und die damit verbundenen Personen zu wissen“, lautet der Text der aufgebrachten Parlamentarier.
Damit berühren sie einen schwierigen Punkt: Ähnlich wie bei der Vergangenheitsbewältigung anderer ex-sowjetischer Staaten werden nun diejenigen aufatmen, die in letzter Zeit wegen angeblicher Beziehungen zum KGB in die Schlagzeilen kamen. Das aktuell umstrittenste Schriftstück in Litauen ist eine Reservistenliste des KGB, auf der sich zahlreiche prominente Namen, wie etwa der Chef der Sicherheitsbehörde Pocius oder der Parlamentarier Pekeliunas befinden. Deren Entdeckung und Interpretation hatte bereits einige Köpfe rollen lassen oder zumindest die Betroffenen in Misskredit gebracht. Aber auch diese Liste wird ab jetzt freilich unter Verschluss gehalten.
Dadurch fehlt Anderen wiederum die Möglichkeit, etwa bei Anklagen ihre Unschuld zu beweisen. Für die Liberaldemokraten eine politische Katastrophe: „Der öffentliche Zugang zu diesen Dokumenten würde wesentlich dazu beitragen, Verleumdungskampagnen und die Manipulation der Menschen zu verhindern.“
Abgesehen davon steht die kleine baltische Republik mit dieser Lösung des Problems ziemlich allein da. Im Nachbarland Lettland wurde, zwar nach großem Tamtam, aber dann mit klarer Unterstützung, entschieden, die KGB-Akten dem Dokumentationszentrum für Totalitarismus zur Verfügung zu stellen; in Polen gingen sie an das Institut zum Volksgedächtnis. „Andere Staaten lassen die Papiere zwar auch von einem Archiv der Regierung verwalten“, erläutert Anusauskas, „und natürlich ist der Zugang streng geregelt, aber von Geheimhaltung ist da keine Rede. Einen ähnlich restriktiven Umgang mit den KGB-Archiven gibt es nur in Russland.“
46 Jahre dauerte die sowjetische Besatzung Litauens an. Während der Okkupation des Baltikums von 1944 bis 1990 starben Hunderttausende; allein rund eine Million Litauer verschwanden in den sowjetischen GULAGS, das entsprach einem Drittel der gesamten Bevölkerung. Noch heute ist der Überfall der Sowjetunion auf den kleinen baltischen Staat ein nationales Trauma.
„Wer glaubt, dass wir wegen der geschlossenen Archive schneller mit der Vergangenheit fertig werden, muss schon besonders blauäugig sein.“, meint auch der politische Kommentator der Wochenzeitschrift „Veidas“ Algimantas Sindeikis. Er denke langfristiger: „Litauen hat doch noch gar nicht begonnen, die ganzen Genozidfälle aus der Sowjetzeit aufzurollen. Jetzt in der EU haben wir dazu mehr als genug Möglichkeiten. Und für Genozid gibt es keine Verjährung.“
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