Sie staunen selbst über ihre Kraft
"Juschtschenko gewinnt!", so verkündet der Taxifahrer freudestrahlend. Es ist Sonntagabend, der 21. November. Die zweite Runde der ukrainischen Präsidentschaftswahlen ist soeben zu Ende gegangen. Die Hochrechnungen zeigen den Kandidaten des oppositionellen Wahlbündnisses Nascha Ukraijina "Unsere Ukraine", mit über 50 Prozent der Stimmen als Wahlsieger. Friedlich fällt der erste Schnee dieses Winters auf Lembergs Straßen. Lemberg, die Hauptstadt Galiziens, wird in den folgenden Tagen zur Hochburg der Proteste. Das verwundert nicht, denn sie war schon immer eine ungewöhnliche Stadt.
Stadtführer Oleh weiß, was die Menschen an seiner Stadt fasziniert: "Es ist dieses Gefühl, als laufe man durch eine andere Zeit. Hier ein Zeugnis gotischer Architektur, da eine Häuserzeile aus der Zeit um 1600." Vor allem aber in das österreichisch-habsburgische Flair, das die Architektur der Stadt noch immer verleiht, verlieben sich die Gäste. Nur seinen multiethnischen Charakter verlor Lemberg im Zweiten Weltkrieg. Hier und da erinnert eine alte Ladeninschrift, Polnisch, Hebräisch oder Deutsch, an die ehemaligen Besitzer. In der Armenischen Straße steht noch eine Kirche des armenisch-orthodoxen Ritus. Eine Gedenktafel erinnert an die Synagoge »Goldene Rose«.
Lwiw, Lwów, Lemberg oder Lwow, die Bedeutung bleibt gleich: Löwenstadt oder Löwenberg, abgeleitet von Lew, dem Sohn des Stadtgründers Danylo Halyckyj. 1256 erstmals urkundlich bezeugt, gehörte die Stadt zunächst zur Kiewer Rus, dem ersten Staat der Ostslawen. Als dieser durch Mongoleneinfälle auseinander bricht, wird sie im 14. Jahrhundert polnisch. Die Lage an wichtigen Handelswegen begünstigt ihre Entwicklung zum wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum. Doch das währt nicht lange. Ein heruntergekommenes Provinzstädtchen ist Lemberg, als es 1772 nach der ersten polnischen Teilung Österreich-Ungarn zufällt. Erst Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt es sich zur habsburgischen Metropole.
"Zum Glück wurde Lwiw im Krieg nicht zerstört", freut sich Oleh. Doch dieses Glück ist gleichzeitig auch Dilemma der Stadt. Die Bausubstanz leidet unter ihrem Alter, viele Häuser der Innenstadt sind einsturzgefährdet. Geldmangel sowie eine unglückliche Eigentumsregelung stehen einer Sanierung im Weg. Die Häuser gehören der Stadt, die Wohnungen sind privatisiert.
Doch nicht nur die Bausubstanz bereitet den Lembergern Sorgen. Die Stadt hat keine eigenen natürlichen Wasserquellen, das Trinkwasser wird aus 40 bis 100 Kilometer entfernten Orten bezogen. Der Transport aber ist teuer, zumal Leitungen und Wasserpumpen häufig in ähnlichem Zustand sind wie die Häuser der Innenstadt. Nur morgens und abends von sechs bis neun kommt Wasser aus dem Hahn. Der Wasserfluss bestimmt den Tagesrhythmus.
Am Vormittag des 22. November ist es in Lemberg betreten still. Laut vorläufigem "Wahlergebnis" liegt der prorussische Kandidat Viktor Janukowitsch angeblich mit uneinholbaren drei Prozentpunkten vor dem favorisierten Viktor Juschtschenko. Immer mehr Menschen finden sich am Denkmal des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko ein. Für 15 Uhr wird zum Generalstreik aufgerufen. Tatsächlich schließen viele Geschäftsinhaber ihre Läden. Der Rektor der größten und bedeutendsten Hochschule, der Iwan-Franko-Universität, verkündet den Streik der gesamten Universität. Im Stadtzentrum kommt der Autoverkehr zum Erliegen. Es ist kein Durchkommen mehr durch die Menschenmassen. Neben den blau-gelben Landesflaggen schwenken die Lemberger die orangefarbenen Fahnen des Oppositionsblocks. Mit orangefarbenen Tüchern, Schals und Bändern, Aufklebern mit der Aufschrift "Ja, Juschtschenko!" bekennen sich die Menschen zu dem von ihnen gewählten Kandidaten.
In den nachfolgenden Tagen werden Streik und Protest immer besser organisiert. Viele Lemberger, vor allem Studentinnen und Studenten, fahren zur großen Dauerdemonstration in die Hauptstadt Kiew. Busse und Zugfahrkarten werden von oppositionellen Abgeordneten des Parlamentes organisiert und finanziert. Wer nicht nach Kiew fährt, unterstützt die Demonstranten mit Lebensmitteln, warmer Winterkleidung oder Geld. Viele Firmen der Stadt stellen einen Teil ihrer Produktion oder ihres Umsatzes den Demonstranten zur Verfügung. Arbeiter verzichten auf ihren Monatslohn. Er fließt direkt in die Streikkassen. Alle Schulen und Bildungseinrichtungen der Stadt streiken. Stadt- und Gebietsrat weigern sich, Janukowitsch als Präsidenten anzuerkennen.
"Ein Zustand der Erwartung. Warten auf etwas Positives. Materielle Dinge sind nicht mehr so wichtig. Wie man sich kleidet, ob man sich schminkt, ist egal. Man konzentriert sich nur auf die Nachrichten. Gibt es eine Entscheidung? Ist etwas passiert? Hoffnung und Angst wechseln einander ab", so beschreibt eine Demonstrantin die Stimmung dieser Tage. Zusätzlich zur großen Bühne vor der Oper wird die Figur der Heiligen Maria Muttergottes, der Schutzpatronin von Lemberg, zum Treffpunkt der Protestierenden. "Wir beten für einen friedlichen und guten Ausgang der Ereignisse", sagt Priester Oleksij. Er feiert improvisierte Gottesdienste vor einem schnell aufgerichteten Holzkreuz. Die Vertreter aller Kirchen, ob griechisch-katholisch, orthodox oder evangelisch, haben sich für Juschtschenko ausgesprochen. Auch große Teile der Lemberger Miliz stellten sich auf die Seite der Opposition.
Nicht überall in der Ukraine herrscht solche Einigkeit wie in Lemberg. Die Hauptstadt Galiziens ist Hochburg ukrainischen Nationalstolzes. Begünstigt durch die Toleranz der Habsburger, konnte sich hier im 19. Jahrhundert ein ukrainisches Bildungsbürgertum entwickeln, wurde die ukrainische Nationalidee geboren. 1917 rief man hier die Ukrainische Volksrepublik aus, die aber an der mangelnden Unterstützung von Seiten der europäischen Großmächte scheiterte.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg in die Sowjetunion eingegliedert, war Lemberg immer ein Ort des Widerstandes und der Bewahrung ukrainischer Sprachkultur. Kein Wunder, dass die Impulse für die Unabhängigkeits- bewegung während Glasnost und Perestrojka von Lemberg ausgingen.
Die Mehrheit der rund 800 000 Einwohner spricht Ukrainisch und sähe das Ukrainische gern stärker im Staat gefestigt. Mit diesem Wunsch treffen die Westukrainer nicht immer auf das Wohlwollen ihrer Russisch sprechenden Landsleute in der Ostukraine. Doch von einem Konflikt zwischen Ost- und Westukraine wollen sie nicht sprechen.
"Ich glaube, dieser Konflikt ist künstlich geschürt. Wir wissen sehr wenig voneinander. Da ist es leicht, Horrorgeschichten von den faschistischen westukrainischen Nationalisten und den kommunistischen, russlandtreuen Ostukrainern zu verbreiten", sagt die Doktorandin Olha. "Gerade in den letzten Tagen bei den friedlichen Demonstrationen in Kiew haben doch die Menschen aus der gesamten Ukraine gezeigt, dass wir ein Volk und eine Nation sind."
Nach den euphorischen Massendemonstrationen der Perestrojka-Zeit wirkten die Lemberger in den letzten Jahren eher passiv, lethargisch. "Die Menschen bezweifelten, etwas gegen Kutschma und seine Leute ausrichten zu können. Sie hatten Angst um ihre Arbeits- oder Studienplätze", sagt Kateryna, eine Hochschullehrerin. "Jetzt ist es anders. Wir haben Kutschma zehn Jahre lang ertragen. Wir wollen nicht mehr." Der jungen Frau ist die Empörung über den scheidenden autoritären Präsidenten und über die offensichtlichen Wahlmanipulationen deutlich anzumerken. "Man versucht uns unsere Rechte und unsere Freiheit zu nehmen. Das ist genauso, wie wenn ein geliebter Mensch stirbt. Man muss alles fallen lassen, um es zu verhindern." Deshalb war auch Kateryna zum Demonstrieren in Kiew.
Der Protest gegen den noch amtierenden Präsidenten und seinen Wunschkandidaten Janukowitsch begann zögerlich. Kleineren Aktionen folgten erst unmittelbar vor dem ersten Wahlgang am 31. Oktober groß angelegte Studentenstreiks. Repressionen gegenüber engagierten Studenten, das von einigen Universitäten ausgesprochene Verbot, an Wahlkampfveranstaltungen der Opposition teilzunehmen, und die kriminelle Vergangenheit Janukowitschs ließen die Studierenden ihre Furcht um den Studienplatz vergessen. Schnell verbreiteten sich die Parolen "Wir sind viele, und gemeinsam sind wir nicht zu schlagen", "Ja, Juschtschenko" oder "Schande!". Manchmal scheinen die Lemberger selbst über die großartige, kreative Kraft ihres vereinten Protestes zu staunen.
Am Freitag, den 3. Dezember, erklärte das Oberste Gericht der Ukraine die Stichwahl vom 21. November für ungültig. Am 26. Dezember soll die Wahl wiederholt werden. Für die Streikenden ein erster Sieg, eine kleine Verschnaufpause. Doch die Lwiwer bleiben wachsam. Orange bestimmt weiterhin das Bild der Stadt.
Vom bevorstehenden Weihnachtsfest wäre auch ohne die politischen Ereignisse der letzten Tage kaum etwas zu spüren. Ein paar Geschäfte werben mit Artikeln für den Nikolaus, der den ukrainischen Kindern in der Nacht zum 19. Dezember Geschenke unters Kopfkissen legt. Einzelne Cafés und Restaurants, die eher ausländische Gäste ansprechen, sind weihnachtlich geschmückt. Es ist Fastenzeit. Die griechisch-katholische, mit Rom unierte Kirche, der viele Westukrainer angehören, feiert die Geburt Christi – wie die Orthodoxen – erst am 6. und 7. Januar.