Die Ukraine am Beginn einer neuen Epoche
„Ich, Wiktor Juschtschenko, durch den Willen des Volkes zum Präsidenten der Ukraine gewählt...“ mit diesen denkwürdigen Worten beginnt der Triumphator der Revolution in Orange im ukrainischen Parlament seinen Amtseid, der erstmals auf eine 900 Jahre alte Bibel abgelegt wird. Es folgt die Loyalitätsbekundung der Armeeführung und eine feierliche Parade vor dem Präsidentenpalast. Dann endlich kann Juschtschenko zu den Menschen eilen, die ihm mit einer friedlichen Protestwelle den Weg zur Macht geebnet haben. 300 000 sind auf den Maidan gekommen, den Platz der Unabhängigkeit, um ihren Sieg, den Sieg der Revolution in Orange zu feiern.
An diesem bewölkten Sonntagnachmittag glüht die ukrainische Hauptstadt Kiew noch einmal auf: Öffentliche Gebäude im Stadtzentrum sind teilweise in orangefarbene Stoffe gehüllt, wieder sieht man Menschen mit orangefarbenen Bannern in der Hand, viele haben orangefarbene Kleidungsstücke angelegt. Juschtschenko steht im Mittelpunkt, und geht es hier um mehr als um die Krönung eines Hoffnungsträgers. Für viele ist dieser 23. Januar die Geburt einer neuen ukrainischen Nation, die im friedlichen Wiederstand der letzten Monate gezeugt wurde.
„Im vergangenen November haben wir der ganzen Welt und vor allen Dingen uns selbst bewiesen: Die Ukrainer sind keine Viehherde und sie lassen sich nicht mehr dorthin treiben, wo unsere Machthaber uns haben wollen“, meint beispielsweise die 36-jährige Olexandra Podolska aus dem südwestukrainischen Ternopyl. Nach Kiew ist sie mit Tausenden ihrer Landsleute aus verschiedensten Ecken des Landes gekommen. Genauso wie damals nach den Wahlfälschungen der ersten Präsidentenstichwahl. Damals ließ Olexandra ihre Arbeit als Bibliothekarin für zwei Wochen liegen und eilte nach Kiew, um hier für die Wahrheit zu kämpfen, wie sie erzählt.
Für den 47-jährige Uhrmacher Wolodimir Golowin aus dem südwestukrainischen Kamjanezk-Podilski ist die Ukraine nun das Vorbild für andere post-sowjetische Länder: „Wir haben wirklich genug gehabt von der alten Macht mit ihren übel riechenden Spielchen! Unsere Freiheit haben wir erkämpft und damit unseren Nachbarn in Belarus, Russland, Moldawien und sogar in Kasachstan gezeigt, wohin und wie es weitergehen muss!“
Aus Russland wurden zuletzt ungewohnt heftige Proteste der Armen und Alten gegen die Streichung von staatlichen Hilfen gemeldet. Ein erstes Überspringen des ukrainischen Revolutionsfunkens? In Weißrussland scheint dagegen die Entwicklung in Kiew das Gegenteil bewirkt zu haben. Internationale Beobachter berichten, dass Diktator Alexander Lukaschenka den Druck auf westliche Ausländer und deren Organisationen massiv erhöht, weil er deren Einfluss auf die noch schwache Demokratiebewegungen im Lande fürchtet. Ob sich auch die Nachbarländer demokratisieren, hängt nicht zuletzt vom dauerhaften Erfolg der Revolution in Orange ab.
In seiner feierlichen Ansprache auf dem Maidan erklärte Juschtschenko, die Ukraine habe nach vielen Jahrhunderten eine einmalige Chance bekommen, ihren Traum von einem eigenen, von fremden Einflüssen unabhängigen Staat zu verwirklichen. In den langen Protestwochen habe das Herz der Ukraine auf diesem Platz geschlagen. Die Ukrainer hätten ihre Würde wieder entdeckt und so den „Sieg der Freiheit über die Tyrannei, des Rechts über die Rechtlosigkeit“ errungen, so Juschtschenko. Der neue Weg werde das Land ausschließlich „vorwärts und bergauf“ führen. Außerdem versprach der neue Präsident, sich zum obersten Wahrer des Gesetzes, der Presse- und der Meinungsfreiheit zu machen, die zerstrittenen Landesteile zu versöhnen und den Weg der Ukraine in die Europäische Union zu ebnen.
Offen ist, wer diese Leitlinien der Politik als Ministerpräsident verfolgen wird. In seiner 20-minütigen Ansprache sagte Juschtschenko entgegen allen Erwartungen nicht, wen er dafür auswählen wird. Geht es nach den meisten Menschen auf dem Maidan, so müsste die Ikone der Revolution, Julia Timoschenko, diesen Posten übernehmen. Auf Hunderten Transparenten steht ihr Name. Doch Timoschenko ist ein rotes Tuch für Russland. Dies könnte der Grund sein, warum Juschtschenko den Namen seines Favoriten noch nicht preisgibt. Schließlich wird er am heutigen Montag, gleich nach der Segnung durch die orthodoxe Kirche, zu seiner ersten Auslandsreise aufbrechen - nach Moskau. Dort wird es darum gehen, die aufgerissenen Gräben zu überbrücken. Russlands Präsident Putin hatte im Wahlkampf Juschtschenkos Gegner Wiktor Janukowitsch massiv unterstützt.