Berufswunsch: Gouvernante in Italien
„Meine Tante war zuerst in Portugal. Sie hat meinem Vater das nötige Geld für das Visum geliehen. Er ist jetzt seit eineinhalb Jahren in Portugal und arbeitet dort auf einem großen Hof als 'Mann für alles'. Sogar kochen hat er gelernt, was meine Mutter kaum glauben kann!“ lacht die junge Sweta. Sie stammt aus einem kleinen Dorf in der Westukraine, nicht weit von Chernivtsy (Czernowitz) entfernt. Die Grenzen zu Rumänien, Ungarn und der Slowakei sind nicht weit, auch Polen liegt in Reichweite. Wer immer einen Weg nach Westen findet, nutzt die Chance, um ein kleines bisschen Wohlstand als Schwarzarbeiter zu verdienen. Swetas Familie konnte sich von dem Geld aus Portugal ein kleines Haus bauen, in dem sie nun zusammen mit der Mutter auf die Rückkehr des Vaters warten. Irgendwann in ein oder zwei Jahren wird er kommen. Oder später.
Rund um die Arbeit im Ausland hat sich ein weit verzweigter Dienstleistungssektor entwickelt. In Chernivtsy wie auch anderswo kümmern sich Reiseagenturen in der Grauzone zwischen Legalität und Illegalität gegen ein entsprechendes Entgelt um die reibungslose Abwicklung der Pass- und Visaangelegenheiten für ausreisewillige Arbeitsmigranten. Die Wege zu einem deutschen Visum mögen nach dem Visa-Skandal in Kiew schwerer geworden sein, aber gegen Geld ist alles zu bekommen. „Ein Visum für Portugal kostet 1000 Dollar“, sagt Sweta. Da viele Familien Summen wie diese nicht aufbringen können, helfen bereits im Westen weilende Familienmitglieder mit Finanzspritzen aus. Oft sind sie es auch, die Jobs für nachfolgende Familienmitglieder im Ausland besorgen.
Die Lücke, die durch ausreisende Familienangehörige gerissen wird, ist längst Normalität. Ob Onkel, Cousine oder Mutter – fast in jeder westukrainischen Familie fehlt jemand. Das Leben muss neu organisiert werden. Die große Schwester übernimmt den Haushalt, die Oma erzieht die anderen Geschwister, die Ferien bei Onkel und Tante werden ausgedehnt, die Tante springt auch sonst mal ein, der Bruder lernt kochen. In einigen Fällen übernehmen die Väter die Erziehung und Haushaltsführung auch ganz, wenn die Mutter im Ausland arbeitet. Alte Rollen weichen auf und werden neu ausgehandelt. Das verläuft nicht nur schmerzfrei. Marina, 18, erzählt: „Meine Eltern arbeiten beide seit drei Jahren in Spanien. Natürlich war es für mich und meine Schwester am Anfang schwer. Wir haben sie sehr vermisst und viel geweint. Aber meine Großmutter und ich führen den Haushalt mittlerweile sehr gut. Wir kümmern uns zusammen um meine kleine Schwester. Sie geht noch zur Schule und ich studiere im vierten Semester Fremdsprachen.“
Marinas Fall, deren Eltern beide in der gleichen Stadt im Ausland tätig sind, ist eher selten. Oft sind es entweder die Väter oder aber noch häufiger die Mütter, die für eine gewisse Zeit, meist ohne jede Absicherung, im Ausland arbeiten. Frauen sind dabei leichter zu vermitteln als Männer, denn es werden vor allem billige Arbeitskräfte im Dienstleistungssektor gesucht; Altenpflege, Haushaltsführung, Kindererziehung und -betreuung sind nach wie vor feminisierte, schlecht bezahlte Arbeitsfelder. Dennoch können die Schwarzarbeiter bei Verdiensten von 500 bis 700 Euro im Monat regelmäßig eine beträchtliche Summe in die Ukraine schicken. Kein Vergleich mit den landesüblichen Gehältern. So verdient ein Hochschullehrer in Chernivtsy beispielsweise kaum mehr als 80 Euro pro Monat.
„Ohne das Geld meiner Mutter hätte ich meine Doktorarbeit nicht schreiben können. Ich habe ihr viel zu verdanken,“ sagt Oxana. Ihre Mutter ist promovierte Physikerin und arbeitet als Haushaltshilfe seit vielen Jahren in Griechenland. Oxana ist mittlerweile 30 und selbst promovierte Dozentin an der Universität. Arbeitsmigranten sind häufig überqualifiziert und arbeiten nicht in Berufssparten, die ihrer eigenen Ausbildung entsprechen. Die 21-jährige Natalie steht kurz vor ihrem Diplom. Wenn sie nach ihren zukünftigen Berufswünschen gefragt wird, entgegnet sie: „Gouvernante in Italien“. Sie hat ihre Mutter, die irgendwo bei Milano lebt, seit sieben Jahren nicht mehr gesehen.
Der relative Wohlstand, den die Schwarzarbeiter durch ihre Geldzahlungen in die Ukraine importieren, sorgt in der Gesellschaft für Spannungen. „Diese Kinder haben zwar viel Kohle, aber wissen oft nicht wohin damit. Sie tragen teure Klamotten und kaufen ihre Diplome durch Bestechung. Die Jungs fangen an zu saufen und die Mädchen werden zu Schlampen“, meint der 19-jährige Jurij. Seine Eltern leben beide noch in der Ukraine. Aber auch Jurijs Vater muss weit fahren, um das Geld für seine Familie zu verdienen. Er arbeitet im zweiwöchigen Turnus in Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, in der nicht nur die Lebenshaltungskosten, sondern auch die Löhne deutlich höher sind, als in der Provinz.
Nicht nur Jurij denkt schlecht über die „Kinder ohne Eltern“, die Migrationswaisen in der Ukraine. Immer wieder hört und liest man von alkoholisierten Vätern, sich prostituierenden Töchtern, Geld prassenden Söhnen und untreuen Müttern. Sowohl die fehlenden Bezugspersonen, als auch der neue Reichtum entwickeln sich zum Problem.
Umgekehrt gibt es aber auch die positiven Beispiele. Familien, die es schaffen, mit westlichem Startkapital in der Ukraine ein Geschäft aufzubauen und so der heimischen Wirtschaft Impulse zu geben.
Marina jedenfalls sagt, dass sie und ihre beiden Schwestern inzwischen mit der Situation umgehen können: „Wir telefonieren mehrmals in der Woche mit unseren Eltern in Spanien und wissen, dass es ihnen auch nicht leicht fällt, ohne uns zu leben. Ich trinke nicht und nehme auch sonst keine Drogen. Wir versuchen hier einfach gemeinsam zu dritt den Alltag zu meistern.“ Schon bald, meint sie, werde sie ihre Eltern wieder sehen. „Vielleicht in zwei, vielleicht in drei Jahren.“