Russland

Moskauer Schattenmenschen

Moskau (n-ost) – Die Ukraine hat in den vergangenen 15 Jahren schätzungsweise fünf Millionen Menschen an das Ausland verloren. Nicht alle gingen nach Westen. Leonid gehört zu den vielen, die im boomenden Moskau ihr Glück suchen. Die russische Hauptstadt und die Kulturmetropole St. Petersburg sind Traumziele für viele Menschen aus den postsowjetischen Staaten. Sie kommen aus dem ukrainischen Donezk, oder aus dem georgischen Tiflis, aus Tschetschenien oder Zentralasien. Dass auch viele Russen unterhalb der Armutsgrenze leben und mit den Zuwanderern um Arbeit und Wohnungen konkurrieren, hält niemanden ab, der zu Hause keine Perspektive mehr sieht.

Insbesondere in Moskau mit seinen vielen Reichen und Superreichen gibt es immer wieder Gelegenheitsjobs. Die Männer verdingen sich auf einer der zahlreichen Baustellen, die Frauen jobben als Haushaltshilfe, in der Gastronomie oder auf einem der zahlreichen Märkte.
Die Angst entdeckt und abgeschoben zu werden, ist groß. Moskaus Polizei rückt wegen der Angst vor tschetschenischen Terroristen immer mal wieder zu überraschenden Kontrollen aus.

Viele Illegale vermeiden es, bei Krankheit oder nach einem Arbeitsunfall einen Arzt oder gar ein Krankenhaus aufzusuchen. Und weil sie ihr ungesicherter Status erpressbar macht, sind viele Zuwanderer gezwungen, in beengten und heruntergekommenen Quartieren überhöhte Mieten zu zahlen. Die meisten Schwarzarbeiter schließen sich deshalb mit Landsleuten zusammen, so dass sich mitunter bis zu zehn Personen eine kleine Wohnung teilen. Es bleibt ihnen oft keine andere Wahl: Schon für eine 1-Zimmer-Wohnung zahlt man etwa 300 bis 400 Euro Monatsmiete. Das Angebot ist knapp: 12 Millionen offizielle und noch ein paar Millionen inoffizielle Bewohner drängen sich in Europas größter und teuerster Stadt.

Leonid hatte Glück und konnte über einen russischen Bekannten, der als „Strohmann“ fungiert, eine Wohnung in einem anonymen Hochhaus in einem Moskauer Vorortbezirk anmieten. Die Zwei Zimmer Wohnung teilt er sich mit drei Freunden, zwei Ukrainern und einem Georgier. In den beiden Zimmern stehen jeweils zwei Betten und ein Schrank. Leonid teilt sich das Zimmer mit Juri, über dessen notorische Unordentlichkeit er sich stundenlang aufregen kann. Schmutzige Wäsche liegt herum, alte Zeitungen stapeln sich arglos. Die Küche ist dagegen erstaunlich aufgeräumt, wobei sich die Freunde nicht darüber einigen können, ob dies vor allem der ordnenden Hand Leonids zuzuschreiben ist, oder dem gemeinsamen Desinteresse, nach Feierabend noch kulinarische Großtaten am Küchenherd vollbringen zu wollen. Gemeinsamer Treffpunkt ist die ausladende, aber etwas abgeschabte Couch vor dem Fernseher in Leonids Zimmer, der fast ununterbrochen läuft.

Die Miete von 460 Euro leisten sie zu gleichen Teilen, aber falls einer der vier Freunde keine Arbeit und damit keinen Verdienst hat, darf er etwas weniger zahlen. „Dann müssen wir anderen härter arbeiten, um die Miete zahlen zu können. Wir verstehen uns gut“, sagt Leonid und fügt mit einem Grinsen hinzu: „Falls einer meiner Freunde mal Damenbesuch hat, gehen wir anderen einfach zusammen in eine Kneipe in der Nachbarschaft, damit die beiden ungestört sind. Soviel Solidarität muss sein.“

Mit den Russen hat Leonid keine Probleme. Er als Ukrainer fällt nicht auf, spricht die Sprache, sieht wie ein Russe aus. Sein georgischer Freund Jacob hat da ganz andere Erfahrungen gemacht. Er ist erst vor kurzem in der U-Bahn als „kaukasischer Bandit“ beschimpft worden. Die „Tschornije“ (Schwarzen) wie die Kaukasier auch abfällig genannt werden, sind rege Markthändler, was den Neid und den Argwohn, insbesondere ärmerer Russen verstärkt.

Auch wenn Leonid versucht seiner Situation noch etwas Positives abzugewinnen, überkommt ihn oftmals Traurigkeit, wenn er an seine Frau und seine beiden Kinder denkt, die er in der Ukraine zurücklassen musste. Er würde gerne nach Hause in das kleine Dorf, das im Sommer ringsum von gelben Sonnenblumenfeldern umgeben ist, zurückkehren. Er weiß genau, dass er in seiner Heimat keine gute Arbeit findet. Nun hat er die Hoffnung, dass sich in der Ukraine, nach dem Wechsel der Regierung Ende vergangenen Jahres, die wirtschaftliche Situation bessert.

Die monatlichen Durchschnittslöhne in der Ukraine liegen bei knapp 200 Euro, in der strukturschwachen Westukraine sogar noch deutlich darunter. Dagegen kann ein Schwarzarbeiter in Moskau durchaus 400-500 Euro verdienen; bei einer besonderen handwerklichen Qualifikation noch einiges mehr. Die genaue Zahl der zumindest phasenweise in Russland lebenden Ukrainer ist unklar. Offiziell geht man von vier Millionen aus, andere Quellen sprechen von sechs bis acht Millionen. Wer nur bis zu 90 Tage in Russland bleibt, braucht sich, auf Grundlage eines im letzten Jahr in Kraft getretenen russisch-ukrainischen Abkommens, überhaupt nicht mehr registrieren zu lassen. Ob diese großzügige Regelung, mit der Putin die Ukraine eng an Russland binden wollte, nach der Revolution in Orange so bleibt, ist abzuwarten.

Längst werden in Russland Erleichterungen für ukrainische Immigranten von einem Teil der Bevölkerung kritisch gesehen. Da auch Russen aus anderen Regionen des Landes eine Erlaubnis der Stadtverwaltung benötigen, um in Moskau zu leben und zu arbeiten, fühlten sie sich gegenüber den Ukrainern benachteiligt. Mittlerweile brauchen sich auch Zuwanderer aus der russischen Provinz in Moskau erst nach 90 Tagen registrieren lassen

Russland braucht Zuwanderung. Die Geburtenrate ist Anfang der 90er Jahre dramatisch gesunken. Gleichzeitig steigt durch den seit fünf Jahren anhaltenden Wirtschaftsaufschwung der Bedarf nach qualifizierten Arbeitskräften. In der Regierung wird deshalb sogar die gezielte Anwerbung von Zuwanderern aus den Staaten der GUS überlegt.
Eher unerwünscht sind dagegen Chinesen, die sich vorzugsweise in Ostsibirien niederlassen. Dort geht die Angst vor Überfremdung um.

Leonid hat vor kurzem seine Arbeit bei einem kleinen Bauunternehmen verloren. Sein Chef hatte ihn durch einen Tadschiken ersetzt. Die Zentralasiaten akzeptieren oftmals noch geringere Löhne als andere Illegale und gelten als geschickt und anspruchslos.

Leonid steht jetzt oft auf einem, von Kiosken und rasch zusammen gezimmerten Verkaufsständen umgebenen, Platz an einer der Ausfallstrassen mit Dutzenden anderer Illegaler, in der Hoffnung darauf für einen Job angeworben zu werden. Er ist bereit, jegliche Arbeit zu akzeptieren und sei sie auch nur für einige Stunden und schlecht bezahlt.

Nach einem erfolglosen Tag ertränkt er seinen Frust mit reichlich Wodka in der Kneipe. Nach einigen Gläsern schweifen seine Gedanken nach Hause, zu seiner Frau, seinen Kindern und dem kleinen Dorf inmitten eines leuchtend gelben Ozeans blühender Sonnenblumenfelder.

Ende



Mathias v. Hofen


Weitere Artikel