Ukraine

Visa-Skandal - welcher Visa-Skandal?

Mit der „Revolution in Orange“ hat sich die Ukraine spektakulär auf den Weg nach Europa begeben. Doch mitten in diese Aufbrucheuphorie platzte der deutsche Visa-Skandal, in dessen Mittelpunkt nunmehr Außenminister Joschka Fischer gerückt ist. Bei seinem gestrigen Besuch in der ukrainischen Hauptstadt wurde deutlich, in welcher Zwangslage Fischer steckt. Während in Deutschland der Druck auf den Außenminister fast täglich wächst, erhoffen die Ukrainer sich ausgerechnet von ihm Unterstützung für ein liberaleres Visa-Recht.

Nicht zuletzt Präsident und Freiheitsheld Wiktor Juschtschenko hat seinen Anhängern einen raschen EU-Beitritt in Aussicht gestellt. Doch fast gleichzeitig mit seinem Amtsantritt im Januar wurden in der Visa-Stelle der deutschen Botschaft in Kiew die Schotten dicht gemacht. Der wohlhabenden Kiewer Bauunternehmerin Larissa Chmarja, die schwerlich als potenzielle Schwarzarbeiterin verdächtigt werden kann, ist zuletzt folgendes passiert: „Meine Freundin hat mich neulich fürs Wochenende nach Berlin eingeladen“, erzählt die 40-jährige. „Meinen Sie, ich habe an der deutschen Botschaft gleich ein Visum bekommen? Als ich dort vor der Tür stand, war ich absolut verblüfft: Alleine die Wartezeit für die Einreichung eines Visumsantrags betrug über eine Woche! Und das wollen wir Reisefreiheit nennen?“ fragt Larissa empört und resümiert: „Halten die Deutschen etwa alle Ukrainer für Ganoven und Betrüger?“ Diese Umstände findet Chmarja deprimierend und für die Ukrainer erniedrigend. Vor den Toren des Konsulates des größten Schengenstaates fühle sie sich wie ein Mensch zweiter Sorte.

Noch wissen in Kiew nur wenige, dass die Ukraine in Deutschland als Hauptlieferant von Schwarzarbeitern, Schmugglern und Prostituierten am Pranger steht. Der Visa-Skandal ist dem Durchschnittsukrainer kein Begriff. Nicht einmal vor dem deutschen Konsulat in Kiew kann jemand damit etwas anfangen

Fischers Blitzbesuch zusammen mit dem polnischen Außenminister Adam Rotfeld ist in den Medien nicht angekündigt worden. Derzeit beherrscht der Europäische Song-Contest alle Schlagzeilen, der nach dem Sieg der ukrainischen Sängerin Ruslana im vergangenen Jahr im Mai 2005 nun in Kiew ausgetragen wird. Seit heute sind Karten für das Ereignis zu bekommen.

Den deutschen Außenminister aber kennt und schätzt auch der kleine Mann in Kiew. Und erhofft sich so manches von ihm: „Fischer, habe ich gehört, kommt zusammen mit dem polnischen Außenminister. Das trifft sich gut!“, meint der junge Informatiker Oleg Javorski. „Bisher waren es nur die Polen, die unsere „Anwälte“ in der EU waren! Sollte sich auch Deutschland für uns einsetzen, kommen wir in Europa ganz bestimmt an!“

Ähnlich groß sind die Hoffnungen der ukrainischen Führung. Immerhin hatte sich Deutschland im Vorfeld von Fischers Besuch bereit erklärt, weltweit als wirtschaftlicher Förderer der Ukraine aufzutreten. Verstanden wurde darunter Hilfe bei der internationalen Anerkennung der Ukraine als Marktwirtschaft sowie die Förderung der Aufnahme der Ukraine in die Welthandelsorganisation (WTO). Besonders dürfte sich die deutsche Wirtschaft für das zwischen Russland und der Ukraine geplante Gaskonsortium „Odessa-Brody“ interessieren. Unlängst hat neben der französischen auch die deutsche Seite ihr Interesse an der Teilnahme an diesem durch die Wirren der ukrainischen Präsidentschaftswahl ins Stocken geratenen Projekt bekundet.

Im Mittelpunkt der Visite steht aber das Thema EU-Beitritt. Auf einer Pressekonferenz kurz nach ihrer Landung verkündeten der deutsche und der polnische Außenminister unisono, dass es noch verfrüht sei, auf einen EU- Beitritt der Ukraine zu drängen. Zunächst solle die Ukraine erst einmal die Annäherung ihrer Institutionen an die EU-Standards anstreben, vor allem auf den Gebieten Justiz und Antikorruptionskampf. Beide Minister bestätigten auf Nachfragen, dass für ukrainische Stundenten der erleichterte Zugang zu europäischen Universitäten geplant sei.

Danach trafen sich Fischer und Rotfeld bei seiner gedrängten Visite mit Staatschef Juschtschenko und der neuen Premierministerin der Ukraine Julia Timoschenko. Diese zeigte sich hocherfreut, dass Polen und Deutschland nun gemeinsam als Fürsprecher der Ukraine auftreten. Doch der heimliche Höhepunkt des kurzen Besuchsprogramms stand Fischer da noch bevor. Auch wenn offiziell nicht davon die Rede war, so wartete doch alles mit Spannung auf einen Besuch Fischers in der Kiewer Botschaft, in dieser Institution, die zum Schicksalsort des deutschen Außenministers werden könnte.

Fischer, so war aus sicherer Quelle zu hören, wolle tatsächlich kommen. Ob er dort neue Informationen und entlastendes Material für seinen Kampf mit der Berliner Opposition gesammelt hat?

Vielleicht hätten Fischer aber besser vor dem Gebäude mit Ukrainern wie Andrej Mogila reden sollen. „Visa-Skandal in Deutschland? Ich finde, wir haben hier in der Ukraine einen Visa-Skandal!“ klagt der 35-jährige Universitätsdozent, der an der Universität Heidelberg an einem Wissenschaftlersymposium teilnehmen möchte. „Ist es denn nicht skandalös, dass ich, statt meine Vorlesung abzuhalten, über eine Woche damit vergeude, ein Visum nach Deutschland zu bekommen?“ Hätte er dies hören können, vielleicht hätte Fischer Mogila umgehend ein Visum besorgt und ihn mitgenommen nach Berlin, als Entlastungszeugen vor den Visa-Untersuchungsausschuss.


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