Wiktor Juschtschenkos 100 Tage im Amt
Auf dem Weg an die Spitze der Ukraine hatte Wiktor Juschtschenko gewaltige Hürden zu überspringen: Die zerstrittene ukrainische Opposition war zu einen, mit Wiktor Janukowitsch ein schier übermächtiger Gegner zu bezwingen, der die Medien kontrollierte, massiv durch Russland unterstützt wurde und sich am Ende noch mit Wahlfälschungen gegen seine Niederlage im Präsidentenwahlkampf stemmte. Als sei dies alles noch nicht schwer genug, wurde Juschtschenko auch noch durch einen Giftanschlag zeitweise lahmgelegt, sein Gesicht zerstört. Am Ende jedoch stand das Volk auf und spülte Juschtschenko auf einer orangefarbenen Welle der guten Laune in das höchste Amt des Staates.
Erst 100 Tage sind seitdem vergangen, die Revolution fast schon Legende und Juschtschenko bei den immensen Problemen des ukrainischen Alltags angekommen. Dennoch: Obwohl Juschtschenko angesichts der bis ins Utopische gewachsenen Hoffnungen der Ukrainer fast nur verlieren konnte, fällt die erste Zwischenbilanz seiner Regierungszeit positiv aus. 60 Prozent der Ukrainer stehen in einer aktuellen Umfragen der Stiftung „Demokratitscheskike initsyativy“ hinter den Reformen; das sind mehr, als Juschtschenko im letzten und entscheidenden Wahlgang im Dezember gewählt haben. Der Verkauf von Juschtschenko- Bildchen und Revolutionsandenken auf Kiews Hauptstraßen läuft weiterhin gut.
Die größten Erfolge konnte Juschtschenko in der Außenpolitik feiern, insbesondere bezüglich der Neuausrichtung der Beziehungen mit der EU und den USA. Im Westen wurde der neue ukrainische Präsident mit Begeisterung aufgenommen, diesen Vertrauensvorschuss hat er genutzt. Juschtschenko durfte unter anderem vor dem Europäischen Parlament, vor dem Deutschen Bundestag und vor dem US-Kongress eine Rede halten und ist bei seinen Verhandlungen mit den westlichen Staats- und Regierungschefs auf mehr Verständnis gestoßen, als seine Vorgänger im Amt sich je erträumt hätten. Juschtschenko hat die Ukraine klar auf einen westlich orientierten Entwicklungsweg festgelegt, EU- und Nato-Beitritt sind fest angepeilt.
Wobei die Ergebnisse des letzten Nato-Gipfels im litauischen Vilnius, an dem der neue ukrainische Außenminister, Boris Tarasjuk, teilgenommen hatte, zeigen, dass sich die Türen der Nordatlantischen Allianz für die Ukraine schneller öffnen könnten als die der EU. Die ukrainische Armee wird demnächst europäischen Standards angeglichen: Die Dienstdauer in der Armee wird zunächst von zwei Jahren auf ein Jahr verkürzt.
Der Weg der Ukraine in die EU hingegen dürfte sich beschwerlicher gestalten. Deutschland sollte dabei nach Polen der zweitwichtigste „Anwalt der Ukraine“ werden. Mittlerweile trübt der Visa-Skandal diese Hoffnungen erheblich und schwächt Juschtschenkos Position, weil Probleme bei der Visa-Vergabe ihm angelastet werden. Zudem ist angesichts der speziellen Freundschaft zwischen Schröder und Putin die Angst groß, Deutschland könnte sich womöglich doch für seine alten strategischen Bünde mit Russland entscheiden. So etwa in der Frage der nördlichen Gasleitung „Russland – EU“ - unter Umgehung der Ukraine, die vor kurzem von Putin-Schröder diskutiert wurde.
In den Beziehungen zu Russland gelang dem ukrainischen Präsidenten kein wirklicher Durchbruch. Zwar behaupten Putin und Juschtschenko, das einstige Kräftemessen im ukrainischen Wahlkampf vergessen zu haben, viele essentielle Probleme in den Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland werden jedoch nicht einmal im Ansatz angegangen. Dazu zählt etwa die Zukunft der russischen Schwarzmeerflotte und der des Gemeinsamen Wirtschaftsraumes zwischen Russland, Belarus, der Ukraine und Kasachstan. Auch der Status der Autonomen Republik Krim innerhalb der Ukraine und die Zukunft der russischen Sprache, die in der Ukraine keine offizielle Amtssprache mehr ist, belasten die russisch-ukranischen Beziehungen.
Russland betrachtet zudem mit Argwohn, dass die Ukraine mit Juschtschenko an der Staatsspitze zu einer neuen regionalen Leitnation im postsowjetischen Raum entwickelt, an der sich andere Staaten orientieren. Davon zeugt die aktive Position der Ukraine im Staatenbund GUUAM, dem außerdem Georgien, Usbekistan, Armenien und die Republik Moldowa angehören. Mit amerikanischer Unterstützung könnte dies ein Konkurrenzgebilde zur russisch-dominierten GUS werden.
Auf wirtschaftlichem Gebiet hat sich das Investitionsklima seit Juschtschenkos Amtsantritt fundamental verbessert. Das Interesse der westlichen Geschäftswelt ist stark gewachsen. Sergej Soboljew, Abgeordnete der Werchownaja Rada, spricht sogar von „einem wahren Investitionsboom“, den die Ukraine derzeit erlebe. Diesen Investitionsboom soll auch die Aufwertung der ukrainischen Landeswährung, Griwnja, gegenüber dem US-Dollar dienen, die die Nationalbank am 21. April beschlossen hat.
Die größten Probleme lauern in der Innenpolitik: Vor allem muss die um sich greifende Korruption im Staatsapparat gestoppt werden. Allerdings haben viele Leute aus Juschtschenkos unmittelbarer Umgebung bereits in der alten Staatsführung gearbeitet. Der Mentalitätswandel will sich daher im Beamtenapparat nicht so schnell einstellen. Umgekehrt können die Posten nicht über Nacht mit neuen, unbelasteten Beamten besetzt werden. So entsteht derzeit eher der Eindruck, die neue Regierung führe keinen Antikorruptionskampf, sondern ausschließlich eine Rachekampagne gegen ihre einstigen politischen Opponenten.
Immerhin haben mit der orangefarbenen Revolution die Medien zu einer freien Berichterstattung über Missstände gefunden, sodass diese Probleme breiter diskutiert und nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden. Auch der Held Juschtschenko muss sich durchaus eine kritische Berichterstattung gefallen lassen, etwa was die Einsetzung der Regionalchefs im eher an Russland orientierten Osten und Süden des Landes betrifft. Während der Präsident bei der Neubesetzung der Regionalverwaltungen im Westen und im Zentrum der Ukraine darauf achtete, dass die neuen Regionalchefs aus der Region stammten, kam es auf der Halbinsel Krim und in der Region Donezk zu Berufungen Ortsfremder, die von der Lokalbevölkerung abgelehnt werden.
Der prominente ukrainische Politologe Wladimir Fessenko vom Zentrum für unabhängige politische Forschungen „Penta“ nennt diese Politik kurzsichtig und meint, sie könnte die ohnehin bestehenden große Differenzen zwischen dem westlich orientierten Westen und dem in Richtung Russland gewendeten Osten der Ukraine noch vertiefen und zu erneuten Abspaltungstendenzen im Süden und Osten des Landes führen.
Es gibt aber auch Stimmen, die Juschtschenkos Personalpolitik loben. „Bereits in der kurzen Zeit seiner Präsidentschaft hat sich Juschtschenko als ein weiser Personalpolitiker bewährt. Er wiederholte im Gegensatz zu vielen seiner postsowjetischen Amtskollegen den Fehler nicht, in seinem Staat für alles zuständig sein zu wollen“, sagt Dmitry Vydrin, Direktor des Kiewer Europa-Institutes für Integration und Entwicklung. Juschtschenko habe viele Ministerämter mit den Menschen aus der neuen Generation besetzt, die im Westen studiert haben und die kein sowjetisches Stigma mehr haben, und diese mit weitgehenden Kompetenzen ausgestattet.
Dennoch wird der ukrainische Präsident ausgerechnet in seiner unmittelbaren Umgebung mit großen Problemen konfrontiert. Denn Juschtschenkos Mannschaft gilt als uneinheitlich, und ihre Mitglieder als miteinander oft im offenen Konkurrenzkampf stehend. So etwa weigern sich einige Minister, die Premierministerin Julia Timoschenko als ihre unmittelbare Chefin anzusehen. In den letzten Monaten boykottierten einige Minister sogar Regierungssitzungen oder sie traten mit destruktiven, gegeneinander gerichteten Aussagen im Fernsehen auf. Juschtschenko hat sie dafür öffentlich gerügt. Das Benehmen, wofür sie vom Präsidenten ebenfalls öffentlich, im Fernsehen, eine Rüge bekommen haben.
Auf einigen Gebieten der ukrainischen Innenpolitik könnte inzwischen der Eindruck entstehen, dass nicht Juschtschenko, sondern seine Premierministerin Timoschenko das Staatsruder in der Hand habe. Die Premierministerin ist tatsächlich im Zusammenhang mit den Reformprozessen – in erster Linie sind es großformatige Sozialprogramme sowie die Erhöhung von Renten und Gehältern - in den Medien stärker präsent. Trotzdem bleibt Juschtschenko jenes Machtzentrum, das die neue Regierung und die Präsidialadministration konsolidiert. Nicht von ungefähr wird die Regierung Julia Timoschenkos oft als Juschtschenko-Timoschenko-Regierung bezeichnet.
Die auf den ersten Blick charmante und sehr weibliche Kabinettschefin neigt im Unterschied zum Staatsoberhaupt dazu, trotz ihrer liberalen Ausrichtung die Wirtschaft in autoritärem Stil und zu stark „manuell“ zu steuern, wie etwa ihr Versuch zeigte, die angestiegenen Preise für Fleischerzeugnisse von oben „einzufrieren“. Ein Schritt, der bei den Landwirten, unter denen viele bei der letzten Wahl den Block Juschtschenko-Timoschenko unterstützt haben, Empörung auslöste.
Im Frühjahr 2006 steht in der Ukraine die nächste Parlamentswahl ins Haus, bei der Juschtschenkos Partei „Nascha Ukraina“ ihre wichtigsten Koalitionspartner, den Timoschenko-Block und die Sozialisten unter Alexander Moros nicht verlieren darf. Vor dieser Parlamentswahl sei in der Ukraine kaum mit einschneidenden Reformen zu rechnen, sagt der Kiewer Politologe Wladimir Polochalo, Herausgeber des unabhängigen Politmagazins „Polititschna dumka“.
Dabei ist der Spielraum, den Juschtschenko und sein Team für Reformen haben, weiterhin sehr groß, wie die aktuellen Meinungsumfragen beweisen; groß genug, um nicht abzuwarten, sondern auch schmerzhafte Schritte in die Wege leiten zu können. Diese aber sind unumgänglich, um die Ukraine fit für Europa zu machen.