„Es gibt immer eine Geschichte“
von Vivi Bentin (E-Mail: vivster@gmx.de, Tel.: 01 70/9 86 80 47)
Vilnius (n-ost). Eine alte Frau steht gebeugt in der Mitte einer Schulturnhalle, um sie herum etwa 35 Kinder. „Sie hat uns erzählt, wie ihre Familie eines Tages Hals über Kopf ihre Sachen packen musste und nach Sibirien geschickt wurde“, erzählt die 11jährige Sandra. „Immer wieder musste sie weinen und wir waren auch sehr traurig.“ Ruta, Laura, Denis, Indre und Arunas nicken und blicken auf das zum Kaffeetisch umfunktionierte Schulpult. Sie sind die aktivsten Mitglieder des „Toleranz-Lern-Zentrums“ in der litauischen Provinzstadt Ukmerge und haben diese Veranstaltung zum nationalen „Tag der Toleranz“ – dem Tag, an dem vor 60 Jahren der erste Litauer von den Sowjets deportiert wurde – mit ihrer Lehrerin Vida Pulkauninkiene organisiert.
Die Idee der „Tolerancijos Ugdymo Centrai“, der Toleranz-Lern-Zentren an litauischen Schulen, stammt aus dem Jahr 2000 und ist weltweit einzigartig. Dort sollen die Kinder Toleranz lernen und leben, entweder während des Schulunterrichts oder auch durch Aktivitäten außerhalb des Stundenplans. Es geht um die Vermittlung von Grundwerten wie Menschlichkeit, gegenseitiger Hilfe und Respekt vor dem Anderen. Schon mehr als 40 Schulen haben sich für den Aufbau eines solchen Zentrums beworben, in einem so kleinen Land ein gigantischer Erfolg. Die finanzielle Unterstützung kommt von der Internationalen Kommission zur Aufklärung der Nazi- und Sowjetverbrechen in Vilnius. Den Inhalt der Projekte bestimmen Lehrer und Schüler allerdings selbst. „Wir wollen den Kindern helfen, die Geschichte zu verstehen, zu begreifen, warum die ältere Generation die Dinge vielleicht anders sieht als sie“, erläutert Vida den Grundgedanken der Zentren.
Gar keine leichte Aufgabe, denn gerade die jüngere Vergangenheit Litauens wird erst seit wenigen Jahren und auch nur sehr zögerlich aufgearbeitet. Gemeint ist damit ein leidvolles Kapitel: die sowjetische Besatzung Litauens. Während 1945 das westliche Europa das Ende des Zweiten Weltkrieges bejubelte, fiel die kleine baltische Republik einem neuen autoritären Regime zum Opfer, dem der Sowjets. In den folgenden fast 50 Jahren, bis zur Unabhängigkeitserklärung Litauens im Jahre 1991, wurde etwa ein Drittel der litauischen Bevölkerung - über eine Million Menschen - verfolgt, eingesperrt, deportiert. Bis heute hat fast jede litauische Familie eine Geschichte von betroffenen Freunden und Verwandten zu erzählen, und noch immer ist das Verhältnis zum großen Nachbarn Russland, dem Nachfolgestaat des Sowjetimperiums, angespannt. Die Brisanz des Themas zeigt sich auch in der Entscheidung des litauischen Präsidenten Valdas Adamkus, die Einladung des russischen Präsidenten Putin abzulehnen und nicht an den Feierlichkeiten zum Ende des Zweiten Weltkrieges am 9. Mai in Moskau teilzunehmen. Diesen Tag, so Adamkus, wolle er mit seinem Volk in seinem Land verbringen und den Opfern gedenken.
Auch für Vida weckt dieses Datum eher bedrückende Erinnerungen. Kurz nach Beginn der sowjetischen Besatzung war auch ihre Familie nach Sibirien deportiert worden, sie selbst ist im Exil geboren. Um den Schülern dieses Thema näher zu bringen, initiierte die Lehrerin im vergangenen Jahr das Projekt „Das Schicksal meiner Familie“, eine Reihe von Schüleraufsätzen über den Zeitraum 1944 bis 1953. Nach Diskussionen im Unterricht sollten die Jugendlichen in ihrem eigenen Umfeld forschen, ihre Eltern und Großeltern über deren Erfahrungen befragen. „Einige haben doch glatt behauptet, in ihrer Familie sei gar nichts passiert“, lacht Vida, „niemand wäre verschwunden, deportiert, niemand hätte als Partisan im Wald gelebt, aber nach und nach wurde ihnen klar, dass es immer eine Geschichte gibt“. Auch Laura erinnert sich, dass sie sich immer gewundert habe, warum ihrem Großvater zwei Finger fehlten. Auf die Idee, danach zu fragen, sei sie aber erst gekommen, als sie im Toleranzzentrum begannen, auch ihre Familiengeschichten zu hinterfragen. Ob sie nun etwas gegen Russen hätte? „Nein, wieso denn.“, meint die 13-Jährige. Aus ihrem jungen Gesicht schauen zwei verständnislose große Augen. Sie alle haben schließlich russische Freunde, benutzen die russischen Ausdrücke „tusovka“ für „Party“ und „kruto“ für „cool“.
Die Ukmerger Toleranz-Aktivisten, wie sie da etwas verlegen sitzen und an der Tischdecke nesteln, gehören zu einer neuen Generation, die sagt, was sie denkt. „Früher hat doch immer nur gezählt, was du auswendig gelernt hast, und nicht, was du meintest“, bestätigt ihre Lehrerin. Wenn sie spricht, sprüht sie vor Energie. „Nein, was wir wollen, ist Vorurteile überwinden, weg mit den Stereotypen. Hier spielt es keine Rolle, woher du kommst, sondern wer du bist“, fasst Vida ihre Arbeit zusammen und schlägt zur Bekräftigung mit der Hand auf den Tisch. „Es sind doch meistens ältere Leute, die auf Russen schimpfen“, mischt sich Indre mit dem roten Schal ein. „Deshalb habe ich mich neulich auch schon mit meinem Vater gestritten.“ Und sie seufzt wie eine Große: „Tja, es scheint, jetzt müssen wir die Erwachsenen erziehen.“
Dabei haben die ersten Untersuchungen des litauischen Forschungszentrums für Völkermord und Widerstand in Vilnius, das sich mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Sowjetregimes befasst, schon jetzt gezeigt, dass nicht nur die Schüler und Schülerinnen von den Toleranz-Lern-Zentren profitieren, sondern auch die Lehrer. Snieguole Matoniene ist die Koordinatorin für Bildungsprojekte bei der 1998 eingerichteten Internationalen Kommission zur Aufklärung der Nazi- und Sowjetverbrechen in Vilnius, wo sie selbst die Idee der Zentren mit ins Leben gerufen hat. Vor ihr auf dem Schreibtisch liegt ein Stapel blauer Ordner, alles Berichte und Fotos von Toleranz-Zentrums-Projekten. „Für viele Lehrer im mittleren Alter, meistens ja Lehrerinnen, hat diese Einrichtung wirklich ungeahnte Horizonte eröffnet. Endlich haben sie aus ihrer traditionellen Rolle der Sowjetgesellschaft ausbrechen können“, bestätigt Snieguole. Sie weiß, wovon sie spricht, denn vor ihrer Tätigkeit für die Kommission war sie selbst Lehrerin und erinnert sich mit Entsetzen an die sowjetische „Gehirnwäsche“. „Früher waren doch die Schulbücher immer nur voll davon, wie uns das sowjetische Brudervolk so heldenhaft von der Bourgeoisie befreit hat“, erinnert sie sich und schlägt sich noch heute bei der Erinnerung vor den Kopf.
Dennoch, einfach beiseite schieben darf man die Geschichte nicht, davon ist die blonde energische Frau überzeugt. Dazu ist Litauen als Land viel zu jung und klein, seine Nachbarn viel zu groß und wichtig. Nur mit Toleranz, so Snieguole, ist eine friedliche Zukunft möglich, und dafür setzt sie sich mit aller Kraft ein. „Ich sehe die Geschichte als Instrument, und das müssen wir auch den Kindern vermitteln“, ist sie fest überzeugt:„Der 9. Mai, das ist doch nur ein kleines Ereignis. Wir können die Geschichte nicht ändern. Wir können sie jetzt nur benutzen, um ein neue Zukunft zu schaffen.“
*** Ende ***