Ukraine

Revolutionäres Zeltlager für Schlagerfans

Seit Monaten fiebert die ganze Ukraine dem 50. Eurovision entgegen, der erstmals in seiner Geschichte in Kiew ausgetragen wird. Der europäische Sängerwettstreit beginnt am Donnerstagabend mit dem Halbfinale, das zuletzt weniger erfolgreiche Musiknationen wie Österreich, Litauen oder Moldawien bestreiten müssen. Deutschlands Vertreterin „Gracia“ hat eine „Wildcard“ erhalten und greift dann am Samstag auf Startplatz 17 gemeinsam mit der europäischen Schlagerelite ins Geschehen ein.

Im Gastland Ukraine hat Musik eine immense Bedeutung. Ruslana Lyschitschko, die Gewinnerin des letztjährigen Wettbewerbs in Istanbul, ist zur Volksheldin aufgestiegen. Manche sagen sogar, sie hätte mit ihrem historischen Sieg das Signal zur orangefarbenen Revolution gegeben. Und als diesjährigen Beitrag schickt die Ukraine ausgerechnet die Band „Greenjolly“ mit ihrem Revolutions-Rap ins Rennen, der pausenlos auf den Demonstrationen im Dezember zu hören war: „Gemeinsam sind wir viele, wir sind nicht zu stoppen.“

Ist die Ukraine in der Lage, so ein Großereignis auszurichten? Das war die Frage, die sich westliche Kommentatoren stellten. Umso mehr legen sich die Veranstalter ins Zeug: Es wurde gestrichen, renoviert, errichtet und umgebaut, was das Zeug hält. Neue Cafés, Lokale und Geschäfte schossen wie die Pilze aus dem Boden. Der ukrainische Vize-Premier Mikola Tomenko kündigte an, den 50. Eurovision zur schönsten Veranstaltung in der Geschichte des Wettbewerbs zu machen. Die Ukraine hat nicht zuletzt aufgrund des Wettbewerbs die Visa-Regelung für EU-Bürger bis Ende September außer Kraft gesetzt. Nie war es in der Geschichte leichter in das Land zu reisen. Ganz Europa soll nach Kiew kommen und am Ende das Land endlich als wichtigen Teil von Europa anerkennen, so die Hoffnung.

Überall in Kiew um die Sympathien des Westens heftig geworben: Ob Post, Internet-Café, Zeitungskiosk oder Supermarkt – überall wurden Schilder in Englisch angebracht, damit ein der kyrillischen Schrift nicht mächtiger Ausländer sich nicht mehr so hilflos vorkommt. Allerdings sind es weniger die Gäste aus dem Ausland, die die ukrainische Hauptstadt Kiew überrennen. Die meisten, die kommen, sind Besucher aus den ukrainischen Provinzen und aus dem nah gelegenen Ausland – aus Russland, Polen, Belarus und Moldawien. In erster Linie sind es Jugendliche unter 35 Jahren. Meistens sind sie in größeren Gruppen unterwegs und schon seit ein paar Tagen in der Stadt, um sich die vielen Sehenswürdigkeiten in Ruhe anzusehen – seien es alte Klöster aus dem 11. – 12. Jahrhundert, prunkvolle Jugendstilhäuser oder Plätze, auf denen noch vor einem halben Jahr die revolutionären Protesten gegen das korrupte Regime Geschichte geschrieben haben – den „Maidan“, die Flaniermeile „Kreschtschatik“ oder das Parlamentsgebäude.

Der 27-jährige Bauingenieur Maxim Rybalka und seine Freundin Alessja aus dem weißrussischen Minsk interessieren sich vor allem für die zahlreichen Revolutionssouvenirs, die verkauft werden. Maxim will unbedingt einen der orangenen Schals kaufen und nach Minsk mitnehmen. Allesja hat es eine bunte Dose mit der Aufschrift „Die Luft vom Maidan“ angetan. Es sei die „Luft der Freiheit“, sagt Souvenirhändlerin Jelena Wiktorowna. Für Weißrussen ein besonders rarer Artikel. Zusammen mit orangenen T-Shirt, den Portraits der Premierministerin Timoschenko und des Präsidenten Wiktor Juschtschenko sind die Dosen sehr begehrt, obwohl der Preis von 3,50 Euro nicht gerade günstig ist.

Die Ukrainer sind als sehr gastfreundlich bekannt. Was den neu gewonnenen Ukraine-Freunden jedoch zusetzen könnte, ist die mangelhafte Hotelinfrastruktur. Hotelbetten in vorhandener Menge und Kategorie, in europäischer Qualitätsausführung sind in Kiew immer noch knapp. Das geringe Angebot hat die Preise gewaltig nach oben getrieben, auf bis zu 400 Euro für ein Standard-Doppelzimmer. Die Stadtverwaltung schlug Alarm, und die Jugendorganisation PORA, die während der Revolution eine entscheidende Rolle spielte, hat deshalb ein Zeltcamp auf einer Truchaniw-Insel im Fluss Dnepr errichtet. Hier kann man noch einmal die Atmosphäre der Revolution einatmen.
Die notwendige Infrastruktur im Camp ist vorhanden: Duschen und WCs, ein Internetcafé, Imbissbuden und Trinkwassercontainer und sogar eine Freilichtbühne auf der großen Wiese, wo abends getanzt wird. Die Eröffnung des Camps hat Grand-Prix-Siegerin Ruslana persönlich übernommen.

„Vor einem halben Jahr habe ich zwei Monate in einem Zelt auf dem Maidan ausgeharrt. Ich war einer der Ersten,“ sagt Andrej Ostroschnyj stolz. Eigentlich sei er kein großer Musikfan, er sei hier mehr aus Nostalgie, um sich mit Freunden aus der Revolutionszeit wieder zu treffen. Gemeinsam wohnen sie jetzt wieder im Zelt. Abends sitzen sie am Lagerfeuer und singen ihre eigenen Lieder zur Gitarre. Im Gegensatz zur Revolutionszeit ist Alkoholkonsum im Zeltlager nun erlaubt. „Die Leute kommen her, um sich zu amüsieren“, sagt Andrej. „Aber eigentlich haben wir doch ein Recht darauf, oder? Denn dafür haben wir schließlich unsere Demokratie mit unseren eigenen Händen verteidigt!“


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