Bosnien-Herzegowina

Die Mörder sind auf freiem Fuß


Von Gaby Babić (Mail: gybabic@hotmail.com, Tel: +387 33 570 000) und Saša Gavrić (Mail: sasa.gavric@gmail.com)

Sarajevo (n-ost). Wenige Tage vor der offiziellen Gedenkveranstaltung zum zehnten Jahrestag des Massakers von Srebrenica entdecken Polizisten nur einen Kilometer vom Eingang der Gedenkstätte Potočari 35 Kilogramm Sprengstoff. Ein anonymer Hinweis an die europäischen EUFOR-Truppen alarmierte die Sicherheitskräfte in Ostbosnien. Zwei Verdächtige wurden bisher festgenommen, genaueres zu den Tathintergründen ist noch nicht bekannt.

So ist in Bosnien-Herzegowina Nervosität zu spüren, denn am 11. Juli 2005 werden unzählige Kameralinsen auf die kleine Stadt Srebrenica gerichtet sei. Dort findet eine Gedenkzeremonie statt, zu der sich fast 50 Staatsdelegationen und rund 500 Journalisten aus aller Welt angekündigt haben. Insgesamt werden 50.000 Besucher erwartet. 570 Opfer, die gerade erst identifiziert werden konnten, werden dann feierlich beigesetzt. Nachdem Tausende Körper und Körperteile exhumiert wurden, werden dann fast 2000 von insgesamt etwa 8000 ermordeten Jungen und Männer auf der Friedhofsanlage in Potočari begraben sein.

Srebrenica ist ein Symbol für die Rückkehr des Völkermords nach Europa und Synonym für das Scheitern der internationalen Politik. Die Stadt liegt in Ostbosnien, ganze 15 Kilometer von der Grenze zu Serbien entfernt. Die Tragödie dieses Ortes kündigte sich Anfang der 90er Jahre an – schon im April 1993 wurde Srebrenica zur UN-Schutzzone erklärt, um die Versorgung tausender Bürgerkriegsflüchtlinge zu gewährleisten. Die von den Vereinten Nationen versprochene Bereitstellung von Lebensmitteln und der zugesicherte Schutz vor den serbischen Truppen blieben aber leere Versprechungen. Die Einheit niederländischer Blauhelme, genannt „Dutchbat“, die ab Januar 1995 in der Enklave stationiert war, beharrte auf ihrer „Neutralität“. Ab Juni 1995 dann übernahmen die Serben die Kontrolle über die Stadt und bereiteten ihre Einnahme vor. Im Juli eskaliert die Situation. Am 11. Juli - vor zehn Jahren also - wurde Srebrenica eingenommen. Ratko Mladić, General der serbischen Armee, befehligte den Einmarsch, dem der systematische Massenmord folgte. Vorherige Bitten des niederländischen Oberst Karremans um NATO-Luftunterstützung scheiterten, auch aufgrund eines falsch ausgefüllten Formulars. Am 12. Juli kamen Dutzende Busse in Potočari, dem Stützpunkt des UN-Bataillons, an. Menschen, die in ihrer Verzweiflung bei den Blauhelmen Schutz gesucht hatten, waren nun den Agressoren ausgeliefert. Frauen, Kinder und Alte wurden nach Tuzla deportiert, die Jungen und Männer ermordet und in Massengräbern verscharrt.

Serbien tut sich auch nach zehn Jahren noch schwer mit einem Eingeständnis der Beteiligung eigener Truppen am Genozid in Srebrenica. In Belgrad wurden Plakatwände beschmiert, auf denen ein Foto des Sarajevoer Künstlers Tarik Samarah zu sehen ist. Das Motiv ist Teil einer Kampagne, die unter dem Motto „Damit du siehst, damit du weißt, damit du erinnerst“, die Bevölkerung Serbiens mit den Verbrechen in Srebrenica konfrontieren will. „Es wird eine Wiederholung geben“, lautet einer der zynisch-brutalen Graffitikommentare, mit denen die Plakate dieser Tage beschmiert wurden.

Die hartnäckige Mehrheit der Serben meint, man sei in erster Linie selbst Opfer der Bürgerkriege in Kroatien und Bosnien geworden. Ein Video konfrontierte sie nun mit einer ganz anderen Realität - Anfang Juni wurden im serbischen Fernsehen Aufnahmen gezeigt, die zuvor dem Haager Tribunal im Prozess gegen den ex-jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević als Beweismittel diente. Es zeigt die Ermordung von sechs bosnischen Muslimen durch eine paramilitärische serbische Einheit, die so genannten „Skorpione“. Daraufhin kam es zu Festnahmen einiger der im Video zu sehenden Mörder. Die Veröffentlichung des Videos brach ein Tabu in der Öffentlichkeit, die sich zum ersten Mal der Tatsache stellen musste, dass serbische Einheiten am Massenmorden in Bosnien-Herzegowina beteiligt waren. „Serbien ist tief schockiert“, ließ der serbische Präsident Boris Tadić vernehmen. „Diese Bilder sind ein Beweis des monströsen Verbrechens, dass gegen Personen anderen Glaubens begangen wurde. Und die Schuldigen haben sich bisher als freie Menschen bewegt.“ Die Konfrontation mit den Verbrechen und ihre Aufdeckung fordert Tadić wohl vor allem aus pragmatischen Gründen. Er will den Weg in die EU ebnen, dafür muss Serbien sich der eigenen Vergangenheit stellen.

Dennoch, die Anerkennung der Massaker als Völkermord wird auch offizieller serbischer Seite vermieden. Serbien könnten aufgrund einer anhängigen Klage aus dem Jahr 1993 Entschädigungszahlungen drohen. Im Zuge der Kriegsverbrecherprozesse in Den Haag, wo seit Jahren schon Täter des Krieges in Ex-Jugoslawien auf der Anklagebank sitzen, wurden die Massaker von Srebrenica als Genozid bezeichnet.

Der internationale Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) stellte in seinem Urteilsspruch gegen General Radislav Krstić, einer der Befehlshaber des Massakers am 19. April 2004, fest: „Was in Srebrenica geschah, war eindeutig Völkermord (…) Die Truppen der bosnischen Serben waren sich, als sie sich auf dieses genozidale Vorgehen einließen, bewusst, dass das Böse, das sie ihnen antaten, den Bosniaken dauerhaftes Leid zufügen wird.“ Krstić verbüßt gegenwärtig eine Gefängnisstrafe von 35 Jahren.

In der Befehlskette sehr weit unten stand der Verurteilte Dražen Erdemović. Er war als einfacher Soldat am 16. Juli 1995 an einem Massaker an unbewaffneten Zivilisten beteiligt. In nur fünf Stunden brachte seine Einheit 1200 Menschen um. Nach eigenen Angaben sei er für den Tod von 10 bis 100 Personen persönlich verantwortlich gewesen. In seinen Vernehmungen zeigte sich der Angeklagte reuig. So wurde er im März 1998 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer Gefängnisstrafe von fünf Jahren verurteilt. Heute ist Dražen Erdemović bereits ein freier Mann.

Die Hauptverantwortlichen für das Verbrechen in Srebrenica, General Ratko Mladić und Radovan Karadžić, wurden vom Haager Tribunal bereits 1995 angeklagt. Bis heute sind beide auf freiem Fuß. Vermutlich halten sie sich in Serbien oder auf dem Territorium der Republika Srpska auf. Anlass zu vorsichtigem Optimismus gibt die Festnahme des Sohnes Karadžićs am 7. Juli 2005. Saša Karadžić ist wegen des Vorwurfs der mutmasslichen Unterstützung von Kriegsverbrechern von einer NATO-Spezialeinheit in Pale, der Serbenhochburg in der Republika Srpska, verhaftet worden.

Während in Serbien die Stimmung zwischen Abwehr, Schweigen und ersten Schuldzugeständnissen schwankt, ist die Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas Ort unzähliger Gedenkveranstaltungen. Zahlreiche Fotoausstellungen und Filme erinnern derzeit an die Verbrechen, Bücher und Vorträge sollen das Unfassbare erklären helfen. Maßgeblich bemüht sich etwa die Heinrich-Böll-Stiftung um Aufklärung. Für die Opfer aber kann das Gedenken nicht die Gerechtigkeit ersetzen: sie fordern weiterhin eine Verurteilung aller Schuldigen der Verbrechen während des Bürgerkrieges.


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